In diesem Hirtenbrief erörtert Bischof Hans Gerny seine Vision von Kirche. Die Kirche ist für ihn nicht einfach eine Institution, sondern eine Gemeinschaft von Menschen, die den Leib Christi bilden (1 Kor 12,26). Diese Menschen suchen gemeinsam den Weg in gegenseitiger Verantwortung und gegenseitigem Vertrauen. Jede*r einzelne Mensch ist für die Kirche unentbehrlich. In dieser Haltung kann die Kirche nicht zu einem Apparat werden, der als Beispiel zu einem Machtinstrument umfunktioniert werden kann.
Person
Hans Gerny
Amt
Bischof von 1986 bis 2001
Siegelwort
«Wir sind Gehilfen eurer Freude.» 2 Kor 1,24
Lebensdaten
* 26.06.1937 in Olten
† 19.01.2021 in Bern
Quellen | Literatur
Bischof Hans Gerny. Predigt auf dem Marktplatz! Hirtenbriefe 1987 bis 2001. Basel 2001.
Hinweis zum Bild
Am Sonntag, 26. Juni 2017 konnte Bischof em. Hans Gerny seinen 80. Geburtstag feiern. Der Festgottesdienst fand in der Kirche St. Peter und Paul in Bern statt. Der Jubilar richtet das Predigtwort an die Gemeinde.
Gnade und Friede Euch von Gott, dem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus!
„Ein Volk ohne Vision geht zu Grunde“, lautet eine bekannte Weisheit. Der Satz gilt wohl für jede Gemeinschaft – also auch für unsere Kirche. Wenn also wir – die Christkatholische Kirche der Schweiz – keine Vision hätten, gingen wir zu Grunde. Es gibt Leute, die behaupten, dem sei so. Ich glaube das nicht. Denn in vielen von uns ist doch eine urchristkatholische Vision tief eingepflanzt, eine ganz bestimmte Vision von Kirche nämlich: Sie lebt – manchmal im Verborgenen vielleicht – aber sie lebt. Nur sind wir uns wohl nicht immer im Klaren, und verständlicherweise auch nimmt immer einig, wie diese Vision eigentlich beschaffen ist. Aber wenn ich sie zu beschreiben versuche, werden viele Christkatholikinnen und Christkatholiken sie wohl als die ihre erkennen können.
Unsere Vision ist in der Geschichte von der Entstehung unserer Kirche vorgezeichnet. Die theologischen Väter der altkatholischen Bewegung hatten ja ihren Widerstand gegen die neuen Papstlehren nicht aus dem Nichts aufgenommen, sondern aus einer klaren Vision von Kirche heruas. Sie hatten ein ganz bestimmtes, in der päpstlichen Hierarchie verlorengegangenes Kirchenbild, das sie wieder herstellen wollten. Sie strebten eine Kirche an, die wieder auf dem Boden der Freiheit und der gemeinsamen Verantwortung stehen sollte. Sie strebten die Wiederherstellung eines evangeliumsgemässen Zusammenlebens der Gemeinschaft der Getauften an, wie sie es in der Alten Kirche verwirklicht sahen. Sie wollten also keine Kirche, die wie eine weltliche Macht aufgebaut war – mit Befehlsgebern und Befehlsempfängern.
Das tönt alles sehr schön. Nur: was heisst das konkret? Wohl etwas ganz einfaches, nämlich, dass die Menschen in der Kirche wissen, dass sie gemeinsam in die Kirche hineingetauft worden sind. Deshalb wissen sie sich verpflichtet, in gegenseitiger Verantwortung und in gegenseitigem Vertrauen in der Kirche zu leben. Es heisst auch, dass in der Kirche Menschen zusammen sind, die wissen, dass niemand den Weg allein finden kann, und dass sie deshalb ihren Weg gemeinsam suchen müssen. Nicht menschliche Machtmechanismen, nicht irdischer Selbstbehauptungstrieb, nicht angstgesteuerte Unterdrückungstendenzen, nicht zwangshafter Ordnungsdrang sollten die Kirche prägen, sondern das uralte Wissen der Gläubigen, dass wir alle Glieder an einem Leib sind.
Die Väter der altkatholischen Bewegung verstanden also die Kirche als lebendigen, strukturierten Organismus, in dem jeder Teil seine Verantwortung und seine Möglichkeiten hat. An diesem Organismus kann kein Teil ohne den anderen existieren und an ihm gibt es keine unwichtigen Teile. Es ist das Verständnis von Kirchesein, wie es der heilige Apostel Paulus in seinem ersten Korintherbrief umschreibt (12,12-28). Lesen Sie diesen wundervollen Text doch wieder einmal durch! Sie werden feststellen, wie hier komplizierte theologische Gedanken leicht verständlich für den Alltag der Gemeinde dargelegt werden. Alles, was im folgenden zu entfalten suche, habe ich in diesem Text gefunden.
„Ihr seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied an ihm.“ (12,26) Hier wird nicht ein Bild oder ein Gleichnis verwendet, sondern eine Aussage über eine Tatsache gemacht: die Kirche ist der Leib Christi. Sie ist nicht einfach eine menschliche Organisation oder Institution, auch wenn sie sich für ihre Arbeit organisieren und strukturieren muss. Wenn man die Kirche nur als Institution sieht – wie das viele Leute, auch Kirchenleute tun –, dann wird sie zu einer menschlichen Einrichtung degradiert. Menschliche Einrichtungen aber sind immer verwendbar, missbrauchbar, austauschbar. So kann die Kirche – als Institution missverstanden – zu einem Apparat werden, den man brauchen, missbrauchen, zu einem Machtinstrument umfunktionieren kann. Sie kann so auch zu einer Organisation werden, an der man sich reibt und gegen die man sich zur Wehr setzt. Oder sie wird zu einer Arbeitgeberin, gegenüber der man seien Interessen wahrnimmt. Oder sie wird zu einer Macht, die Meinungs- und Gewissensfreiheit in Frage stellt. Kurz: Wenn ich die Kirche als Institution sehe, dann bin ich nicht mehr in ihr integriert. Sie wird dann zum Gegenüber. Konsequenterweise kann ich mich aus ihr heraushalten, mich gegen sie wenden, sie für ihre Fehler, Missbräuche und Versagen verantwortlich machen. Ich kann dann sagen: Ich glaube, aber die Institution Kirche brauche ich dazu nicht.
Wenn ich die Kirche aber als Leib erfahre, an dem ich ein Glied bin, dann verändert sich mein Verhältnis völlig. Dann stehe ich zu ihr nicht mehr als Gegenüber, sondern dann bin ich ein integrierender Teil von ihr. Ich bin dann nicht mehr lediglich ein Mitglied eines Institution oder eines Vereins, aus dem ich auch jederzeit austreten kann. Wenn ich Glied der Kirche als Leib Christi bin, dann bin ich deren integrierenden Bestandteil. Die Kirche ist nur mit mir unversehrt, und ich kann nur in Gemeinschaft mit ihr leben. Wenn ich wegfalle, ist sie unvollständig und ich meines Lebens beraubt. Man überlege die Tragweite des Gesagten: Die Kirche, die der Leib Christi ist, ist ohne mich unvollständig! Ich denke, dass es keine andere Religion gibt, für die jeder einzelne Mensch so unentbehrlich ist. Dass ein solcher Gedanken Folgen hat, liegt auf der Hand.
Die Tatsache, dass die Kirche ohne mich unvollständig ist, gibt mir als einzelnem Getauften grösste Würde und Wichtigkeit: jeder in die Kirche getaufte Mann und jede in die Kirche getaufte Frau ist ein Stück des Leibes Christi. Wer weggeht, sich heraushält, an den Rand gedrückt wird oder verschwindet, der fehlt. Niemand ist ein mehr oder weniger wichtiges oder gar verzichtbares Mitglied. Jeder Getaufte, der der Kirche den Rücken kehrt, hinterlässt eine Verletzung am Leib. Weil ich durch Christus ein Stück seines Leibes geworden bin, bin ich für Gott unverzichtbar geworden. Ich muss nicht mehr um Anerkennung kämpfen. Ich bin ja anerkannt. Das führt zu jener selbstverständlichen Ruhe, die Paulus gelassen feststellen lässt: „Wenn Gott für uns ist, wer kann dann gegen uns sein?“ (Röm 8,31).
Wenn die Kirche ohne mich unvollständig ist, dann ist sie natürlich auch ohne meinen Bruder oder meine Schwester in Christus unvollständig. Mein Bruder oder meine Schwester sind genauso unentbehrlich wie ich. Jedes von ihnen ist ein Stück des Leibes Christi. Das zwingt zu grösster Achtung und Respekt vor jedem Bruder und jeder Schwester in Christus. Sie sind genauso wie ich Glieder mit lebensnotwendigen Funktionen am Leib der Kirche. Wie jeder Leib braucht auch die Kirche verschiedene Organe, also verschiedene Verantwortlichkeiten und Fähigkeiten. Dass Kirche verkümmert, wenn die verschiedenen Möglichkeiten menschlicher Vitalität nicht zur Geltung kommen können, beweist Paulus verblüffend einfach: „Wenn der ganze Leib nur Auge wäre, wo bliebe dann der Geruchssinn?“ (12,17) Wie ein Leib zum Monster würde, der nur ein Auge oder nur Magen wäre, so würde die Kirche zu einem Monster, wenn es nur Synodale oder nur Finanzverwalter, nur Bischöfe oder nur stille Gottesdienstbesucher, nur Pfarrer oder nur Katechetinnen gäbe. Es braucht alle Glieder, und jedes Glied hat seine eigenen Aufgaben und Fähigkeiten, seine eigene Verantwortung. Fuss, Auge, Ohr, Kopf – sie alle gibt es in der Kirche. Sie sind alle nötig. Sie können alle einander ihre Aufgaben nicht abnehmen, aber sie können ohne einander ihre Aufgaben nicht erfüllen. Die Kirche ist ein Organismus mit einer genauen Einordnung der Organe. Das ist das kirchliche Verständnis von Hierarchie. Es sind nicht alle gleich, aber alle gleich notwendig. „Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich bin nicht auf dich angewiesen.“ (12,21).
Man kann diese Vorstellung als antiquiert und undemokratische ansehen. Jeder Mensch sollte doch gleichviel zu sagen haben. Jeder Mensch sollte doch überall mitreden und mitentscheiden können. Natürlich sollte er das. Aber es sollen nicht alle das gleiche tun. Das entlastet mich und macht mich frei von Leistungszwang. Ich bin nicht für alles zuständig und verantwortlich. Ich kann nicht alles und ich muss vor allem nicht alles können. Im Gegenteil: Ich bin Auge oder Hand, Fuss oder Ohr. Finanzverwalter oder Katechetin, Bischof oder Synodale – jedes ermöglicht dem Anderen, seine Funktion zu erfüllen.
Wenn Paulus die Kirche als den Leib Christi darstellt, so bedeutet das, dass die kirchliche Gemeinschaft über jede menschliche Gemeinschaft hinausführt. Die Menschen, die zur Kirche gehören, haben eine neue Würde erhalten – eine Würde, die nicht von der eigenen Leistung, der Herkunft, der sozialen Stellung, der Rasse oder dem Geschlecht abhängt, sondern allein von der Tatsache, dass sie Glied am Leib Christi sind. In der Taufe, durch die der Mensch Glied am Leibe Christi wird, wird jeder Täufling bei seinem Namen gerufen. Diese Tatsache zeigt, dass jeder Mensch als Glied am Leib unverzichtbar wichtig ist. Jede Christin und jeder Christ hat in der Kirche mit seiner persönlichen Eigenart, an seinem Ort, mit seinen Fähigkeiten seinen Platz. Niemand ist überflüssig und niemand ist austauschbar. Das ist unsere Vision von Kirche.
Es hat jemand vor kurzem gesagt: alle verlangen Visionen, aber niemand ist bereit zuzupacken und etwas zu tun. Visionen haben ersetzt das Arbeiten in der Realität nicht. Das stimmt genau. Aber gerade hier unterscheidet sich unsere Vision von Kirche von realitätsfernen Visionen in Politik, Kultur und Umwelt. Hier können wir anpacken – im ganz einfachen Alltag unserer Kirche und unserer Gemeinden. Wir können versuchen, den Umgang miteinander zu verändern. Wir sollten die andern in der Kirche nicht als Teile eine Institution sehen. Wir sollten uns als Glieder des gleichen Leibes verstehen, die wissen, dass sie ohne einander nicht leben können. Ich möchte den Faden des Paulus etwas weiterspinnen: Das Auge redet nicht über die Hand. Das Ohr misstraut dem Fuss nicht, er wolle zu viel Macht an sich reissen. Und die Zunge denkt von der Nase nicht, sie sei zu faul zum riechen. Und der Magen sagt nicht, das Gehirn könnte mir verdauen helfen. Das Bein kommt nicht auf die Idee, ich wäre eigentlich eine bessere Niere.
Natürlich weiss ich selbst gut, dass man nicht immer in der Lage ist, so zu handeln. Ich weiss auch, dass ich manchmal über die Leber schimpfe oder denke, dass ich ein besseres Ohr wäre. Zu oft fühlen wir uns unsicher. Manchmal haben wir Angst voreinander. Häufig haben wir es in der Kirche nicht leicht – in der kleinen Christkatholischen Kirche schon gar nicht. Manchmal fühlen wir uns überfordert. Die Hand hat Blasen und die Nase den Schnupfen. Aber alles das ändert nichts daran, dass wir der Leib Christi sind. Ist das nicht Grund genug, zuzupacken und die christkatholische Vision von Kirche Wirklichkeit werden zu lassen?
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen.
Amen.