Bischof Dr. Adolf Küry berichtet von der Konferenz, die vom Weltbund für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen einberufen wurde. Der Verhandlungsgegenstand in Prag war der Weltfriede und die Verantwortung der Kirchen. Die Vertreter der Kirchen in Prag betonen, dass jeder Krieg immer wieder Ursache neuer Kriege wird. In seinem Hirtenbrief erläutert der Bischof das Thema „Die Kirchen und der Weltfriede“ aus unterschiedlichen Perspektiven und setzt sich mit der Frage von Kirche und Politik auseinander. Er betont, dass das soziale und pazifistische Programm der Kirche sich im konkreten Engagement für soziale Gerechtigkeit und in der Friedensarbeit widerspiegeln muss.
Person
Adolf Küry
Amt
Bischof von 1924 bis 1955
Siegelwort
«Lasset uns Gutes tun und nicht ermüden.» Gal 6,9
Lebensdaten
* 21.07.1870 in Basel
† 26.11.1956 in Bern
Quellen | Literatur
Bischof Dr. Adolf Küry. Die Kirchen und der Weltfriede. Hirtenbrief auf die Fastenzeit 1929. Bern.
Hinweis zum Bild
Das Bild zeigt die Grundsteinlegung der Christuskirche in Hellikon. Der Bau erfolgte von 1946 bis 1948.
Dr. Adolf Küry Bischof der christkatholischen Kirche der Schweiz an die christkatholischen Gemeinden und an die Christkatholiken in der Diaspora.
Liebe Gemeinden!
Liebe Glaubensgenossen und Freunde!
Schon einige Male hatte ich Gelegenheit von Weltkonferenzen zu erzählen, auf denen Vertreter der Kirchen aller Länder allgemeine, alle Christen berührende Gegenstände behandelt haben. Auch jetzt möchte ich über eine solche Zusammenkunft berichten, die im letzten Sommer in Prag stattgefunden hat und an der ich als Vertreter unserer Kirche teilgenommen habe. Sie war vom Weltbund für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen einberufen worden. Wie der Name andeutet, bezweckt dieser Bund, der seit 1914 segensreich wirkt, durch die Kirchen auf die Völker versöhnend einzuwirken, damit christlicher Geist in ihrem Zusammenarbeiten zum Durchbruch komme und so Eintracht und Friede in der Völkerfamilie angebahnt und erhalten werde. Während der Bund bis jetzt seine Tätigkeit auf Unternehmungen beschränkt hatte, die mehr im stillen seinem Zwecke dienen, trat er in Prag mit einer Weltkonferenz an die Öffentlichkeit, auf der fast alle Kirchen mit Ausnahme der römisch-katholischen mit gegen fünfhundert Abgeordneten vertreten waren. Der Verhandlungsgegenstand war die Kirchen und der Weltfriede.
Ein Thema, dass gewiss die gesamte Christenheit beschäftigt und wozu sie ohne Zweifel auch ein Wort zu sagen hat. Sie feiert ja ihren Herrn als Friedensfürsten. Die Botschaft vom Frieden begleitet Jesus von der Weihnacht mit dem Engelchor „Friede auf Erden“ (Luk 2,14), während seiner Wirksamkeit in der Verheissung „Frieden gebe ich euch“ (Joh 14,17), bis zur Vollendung im Gruss des Auferstandenen: „Friede mit euch!“ (Joh 20,19) Grund genug zu einigen Betrachtungen im Anschluss an die Arbeit der erwähnten Konferenz.
I.
Die Prager Weltkonferenz ist als eine Tat bezeichnet worden, weil sie einmütig für den Weltfrieden eingetreten ist. Die Besten und Edelsten bemühen sich heute um dieses Ziel. Nicht erst heute. So weit wir in der Geschichte Kunde haben, begegnet uns der Glaube an das goldene Zeitalter des Friedens. Die einen schauten es in der Vergangenheit in einem verlorenen Paradies, andere hofften, dass ein kommender Held es bringen werde. Zu allen Zeiten wurde der Versuch gemacht, der Menschheit durch Errichtung mächtiger Weltreiche den Frieden zu sichern. Verbreitet war der Glaube, er sei das sichere Ergebnis einer langsam fortschreitenden Kulturentwicklung. So verschieden der Glaube, so verschieden die Mittel, mit denen er erstrebt wurde. Welteroberer wähnten, ihn mit Gewalt und Krieg erkämpfen zu können, die Mächte sahen in Rüstungen die beste Garantie zum Frieden. Propheten erwarteten ihn von einer inneren Umwandlung der Menschheit durch Ersetzung der Gewalt durch Gerechtigkeit. Heute ist nach dem furchtbaren Erlebnis des letzten Krieges der Glaube allgemein verbreitet, dass Völkerbund, Schiedsgerichte, Verträge, Abrüstung die Mittel seien, um den Frieden zu sichern.
Die Vertreter der Kirchen waren in Prag einmütig in der Ablehnung und Verurteilung des Krieges als einer Auswirkung der dämonischen Mächte des Bösen in der Welt. Das Dämonische liegt darin, dass jeder Krieg immer wieder Ursache neuer Kriege wird.
In dem Wort des Heilandes, das er zu Petrus gesprochen, als dieser in Gethsemane das Schwert zu Verteidigung ergriff: „Stecke dein Schert in die Scheide, denn wer das Schwert ergreift, soll durch das Schwert umkommen“ (Matth 26,52), erkannte man eine grundsätzliche Wahrheit von bleibender Bedeutung, der in den allgemeinen Erfahrungsschatz der Menschheit aufgenommen werden sollte. Ergreifend war das Bekenntnis von Männern, deren Völker in den Krieg verwickelt waren, dass sie sich aus schwerer Täuschung zu dieser Erkenntnis durchgerungen hätten.
Die Völker bilden heute eine grosse Gemeinschaft, die nicht nur durch die Verkehrsmittel und Handelsbeziehungen wie durch den Austausch materieller und geistiger Güter einander viel näher als früher gekommen sind, sondern die geradezu aufeinander angewiesen sind wie die Mitglieder einer Familie. Wie die Voraussetzung eines geordneten Familienlebens Eintracht ist, so bildet die Lebensnotwendigkeit der Völkerfamilie der Friede.
Mit Schmerz wurde festgestellt, dass die Welt davon noch weit entfernt ist. Angst und Misstrauen, aber auch nationaler Egoismus, Selbstüberhebung und Hunger nach Machtentfaltung, die Ursachen der fortwährenden Rüstungen, gefährden beständig den Frieden der Welt.
Um die Gefahr neuer Kriege zu beschwören, reichen Völkerbund, Schiedsgerichte, Verträge, Abrüstungen auf die Dauer nicht aus, ja sie werden versagen, wenn nicht moralische Abrüstung erfolgt und eine Atmosphäre geschaffen wird, die dem Krieg alle Lebensbedingungen raubt. Für diese moralische Abrüstung zu wirken, ist die grosse Aufgabe der Kirche, damit jene finstern Mächte durch Vertrauen und guten Willen, durch Recht und Gerechtigkeit, durch Solidarität und Freundschaft ersetzt werden. Das setzt voraus, dass im Leben und Verkehr der Völker dieselben moralischen Gesetze Anerkennung finden, die im persönlichen Leben gelten. Es darf und kann keine doppelte Moral geben, eine für die private Denk- und Handlungsweise und eine besondere für die politische Tätigkeit, den diplomatischen Verkehr, die Beziehung der Völker untereinander.
Die Verhandlungen gipfelten in einer Kundgebung zugunsten der Abrüstung. Darin ruft der Weltkongress „die christlichen Kirchen auf, ihren Mitgliedern die feierliche Verpflichtung klar zu machen, dass alle Staaten, die Mitglieder des Völkerbundes sind, ihre bewaffneten Kräfte gemäss dem Völkerbundspakt einschränken und begrenzen müssen und eine allgemeines Schiedsgerichtssystem annehmen, wodurch Streitigkeiten durch friedliche rechtliche Mittel beigelegt werden sollen. Er ruft die Kirchen auf, ihren sittlichen Einfluss zusammen mit dem Völkerbund und den eigenen Regierungen zu verwenden, dass dieselben mit Beschleunigung die internationalen Abmachungen treffen, die für diesen Zweck notwendig sind; er ruft die Kirchen auf, ihre Geisteskräfte und ihren erzieherischen Einfluss einzusetzen, dass alle Völker fortan ihre brüderliche Solidarität und ihre Verpflichtungen zu zielbewusster Arbeit bejahen und so auf die völlige Ungebundenheit durch internationale Verpflichtungen verzichten. Die Kirche Jesu Christi nimmt als bindende Norm die heilige Ordnung an, die ihr Haupt im Evangelium gegeben hat: ‚Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes‘.“
II.
Werden aber die Kirchen, so können wir fragen, mit diesen Weisungen nicht genötigt, sich auf ein Gebiet zu begeben, das nicht in den Bereich ihrer Tätigkeit gehört, auf das Gebiet der Politik?
Gibt es nicht genügend Persönlichkeiten wie Staatsmänner, Parlamentarier, Völkerrechtslehrer, Politiker, ebenso genügend Veranstaltungen wie Völkerbundsversammlung, Schiedsgerichtshöfe, internationale Konferenzen, Parlamente, Volksversammlungen, öffentliche Parteien und Gesellschaften, die sich mit diesen Dingen, vor allem mit der Abrüstung zu befassen haben? Die bindende Norm der Kirche ist ja, wie die Kundgebung sagt, die heilige Ordnung: „Suchet am ersten das Reich Gottes“. Das stimmt mit dem Worte Jesus über seine Stiftung: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36) und mit der Verheissung: „Frieden lass ich euch, meinen Frieden gebe ich euch, nicht wie die Welt gibt, gebe ich ihn euch.“ (Joh 14,27) Die Welt sucht den Frieden mit weltlichen Mitteln. Völkerbund, Verträge, Abrüstung sind weltliche Mittel, die mit der Sache Christi nicht identifiziert werden können. So wertvoll und unentbehrlich sie sind, so unschätzbare Dienste sie leisten können, sie entsprechen der heiligen Ordnung nicht. Sie sind Versuche zum Frieden, die den Stempel der Unzulänglichkeit an sich tragen, Kompromisse mit Mängeln und Schwächen, über die schliesslich ernste Christen geteilter Meinung sein können. Aus diesem Grunde geht es nicht an, dass nun künftig Abrüstung, Einschränkung des Militärbudgets, Militärwesen, Antimilitarismus und dergleichen Gegenstand von Betrachtungen auf den Kanzeln, des Religionsunterrichtes, von Beratungen und Beschlüssen der kirchlichen Behörden, der Synoden, Kirchgemeindeversammlungen unserer Kirche werden können. In unserer Kirche wurde seit jeher der Grundsatz beobachtet, dass Fragen, die in die Ratssäle und in Volksversammlungen gehören, in der Kirche nicht behandelt werden dürfen, konsequenterweise muss das auch von Vorschlägen gesagt werden, die vor den Völkerbund, internationale Konferenzen und Schiedsgerichtshöfe gehören. Dieser Grundsatz hat sich bewährt. Es wäre als ein Missbrauch empfunden, wenn davon abgewichen würde.
Nicht dass wir den Angehörigen unserer Kirche etwa Gleichgültigkeit im öffentlichen Angelegenheiten empfehlen möchten. Es ist gute Überlieferung in unserer Kirche, dass wir allen das Wohl und Wehe der Öffentlichkeit ans Herz legen, dass wir eindringlich darauf hinweisen, wie Bruderliebe, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Friedfertigkeit leere Begriffe bleiben, wenn sie nicht aus aufrichtiger Gesinnung auch zu Tat werden in Gesellschaft, Vaterland und in der weiten Welt.
In diesem Sinne beten wir in unsern Gottesdiensten für das Vaterland, für seine geistlichen und weltlichen Vorsteher, für die Kranken und Betrübten, für die Bedrängten und Notleidenden, für die Irrenden und Sünder, für den allgemeinen Frieden und die Wohlfahrt der Menschheit. Das Gebet ist ein Ansporn, Jesus im praktischen Leben nachzufolgen. Wie das im Einzelnen sich auswirken soll, muss dem Gewissen des Christgläubigen überlassen werden. So wenig die Kirche sich ungerufen in die einzelne Familie einmischen kann und darf, damit in ihr Eintracht im Geiste des Evangeliums erhalten bleibt, ebenso wenig darf sie in das öffentliche Leben mit Verhaltungsmassregeln und Direktiven eingreifen. Sie darf sich weder auf ein politisches, noch auf ein wirtschaftliches, noch auf ein soziales oder pazifistisches Programm festlegen. Damit ist keineswegs gesagt, dass sie bestehenden Verhältnissen rückhaltlos zustimmt. In der Kirche ist doch allgemein bekannt, dass es wirtschaftliche, soziale, politische Zustände gibt, die wahrhaft christliches Leben erschweren, fast unmöglich machen, nicht nur für den, der darunter leidet, sondern auch für den, der mit wundem Herzen mitleidet. Denken wir an das Elend in den Grossstädten, aber auch an die materielle und physische wie an die moralische und geistige Not in unsern einfacheren Verhältnissen. Der Kirche Mission ist, die Sünde aufzudecken, zur Busse aufzufordern, selbstlose Gesinnung zu verbreiten und zur opferfreudigen Tat zu begeistern.
Wir machen die Beobachtung, wie eine starke christliche Gemeinschaft, die wohl in der besten Absicht sich zu sehr auf die Welt eingestellt hat, in ihren eigenen Reihen plötzlich mancherorts vor einer religiösen Leere und einem kirchlichen Nihilismus steht, der ihr eindringlich das Wort des Heilandes vor Augen hält: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne, Schaden litte an seiner Seele.“ (Matth16,26)
Wir können die in unserer Kirche geltende Auffassung auf das Verhalten Jesu selbst schützen. Eine wichtige religiöse und moralische Angelegenheit war für seine Zeitgenossen die römische Fremdherrschaft. Als der Herr darüber Bescheid geben sollte: „Ist es erlaubt dem Kaiser Steuern zu geben“? antwortete er: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist.“ (Matth 22,21) In ähnlichem Sinn ist das Wort des Apostels Paulus zu verstehen: „Gebet jedem, was ihm zukommt: Wem Steuer, dem Steuer, wem Zoll, dem Zoll, wem Ehrfurcht, dem Ehrfurcht, wem Achtung, dem Achtung. Niemandem bleibet etwas schuldig, ausgenommen, euch einander zu lieben.“ (Röm 13,7f)
Die Zustimmung zur Pragerkonferenz verlangt keine Änderung dieser unserer Auffassung. Gut vereinbar mit ihr ist die Tatsache, dass die Vertreter der verschiedenen Kirchen in schweren Zeiten zu gemeinsamer Beratung zusammentreten, um das, was als furchtbare Not empfunden wird, an der Botschaft des Evangeliums zu messen und daraus Grundsätze zur Abhilfe abzuleiten. Wie einst in der alten Kirche allgemeine Konzilien abgehalten worden sind, um das festzustellen, was in der Glaubenslehre der Überlieferung entsprach, was einzelnen Kirchen nicht überlassen werden konnte, wenn sie nicht zur Sekte werden wollten, so treten heute Vertreter der verschiedenen Kirchen zusammen zu Beratungen allgemein christliche Angelegenheiten geistiger und moralischer Natur. Ein einzelnes Volks vermag der Welt keine Friedensordnung zu schaffen, selbst wenn es das letzte Schwert zur Sichel umschmieden würde, nur in zäher Arbeit kann die Gesamtheit der Völker sie erwirken. Wenn eine einzelne Kirche an die Friedensbotschaft des Evangeliums erinnert, wird das überhört werden, wenn aber die Gesamtheit der Kirchen der Welt kund gibt, es ist Pflicht der Kirche, am Friedenswerk mitzuarbeiten, wird dies von Segen sein.
Wuchtig klingt das Wort: Verabscheut den Krieg im Namen des Evangeliums, helft im Verkehr der Völker den moralischen Grundsätzen zum Sieg, mahnt die Völker an ihre Verpflichtungen. Noch wuchtiger aber klingt der Schlusssatz der Resolution: Der Kirche bindende Norm ist die heilige Ordnung, die ihr ihr Haupt im Evangelium gegeben hat: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes.“ Damit werden die Kirchen an ihre eigentliche religiöse Aufgabe erinnert, die sie in dieser Welt zu erfüllen haben. Sie bewahrt sie davor, dass sie sich im Suchen nach weltlichen Hilfsmitteln verlieren, damit sie das ruhig denen überlassen, die dazu von dieser Welt berufen sind.
III.
Der Kirche heilige Ordnung ist die Herrschaft Gottes, die Herrschaft Gottes in ihrer Verkündigung, in ihrem heiligen Dienst aber auch Herrschaft Gottes in den Herzen, im Sinnen und Trachten, im Tun und Lassen ihrer Angehörigen. Wo diese Herrschaft Gottes durch Jesus Christus besteht, da herrscht Friede. Friede, nicht wie die Welt gibt, der nicht in Wort und Paragraphen, nicht in Vorschriften und Gesetze gefasst werden kann, sondern Friede, der nach dem Apostel Paulus „über allen Begriff“ geht (Phil 4,7), der als Gabe der Welt Gottes im Innersten als unverlierbares Gut erlebt wird. Wo solcher Friede erfahren wird, ist Seligkeit, die Fülle und die Höhe des Lebens erreicht. „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes heissen.“ (Matth 5,6)
Ist die Kirche Vermittlerin und Trägerin dieses Friedens, ist es die einzelne, ist es unsere Kirche? Wer wagt das ohne weiteres zu bejahen oder zu behaupten, es treffe doch einigermassen zu? Die Christenheit steht im Banne der dämonischen Mächte, die soviel Unheil über die Welt gebracht haben und die das Friedenswerkt so sehr erschweren. Sie setzt sich aus denselben Menschen zusammen, die Staaten und Völker bilden. Sie wurde mit in den Strudel des allgemeinen Verderbens gerissen und zeigt sich machtlos gegenüber dem schrecklichen Geschehen. So ist es leicht verständlich, dass sie auch jetzt in ihrem Arbeiten für die Friedensordnung fast einflusslos bleiben muss, wenn sie nicht die heilige Ordnung in der Tiefe erfasst und befolgt und selbst ein Hort des Friedens wird.
Eine Auswirkung des Friedensgeistes der Kirche ist die Herstellung des Friedens in den eigenen Reihen. Sie bietet heute nicht nur ein unerfreuliches Bild der Zerrissenheit, sondern ihre verschiedenen Erscheinungsformen ergehen sich in Selbstüberhebung gegen einander. Religiöse und kirchliche Polemik muss zurückgedrängt werden. Wer in Kampf und Streit seine Kräfte verzehrt, der leidet Schaden an seiner Seele. Das gilt für jede Kirche. Und geht es auch um Recht und Gewissen, höher als Beides steht Versöhnlichkeit und Liebe.
Ist die Einzelkirche in ihren Lebensäusserungen nur von jenem Frieden Gottes geführt? In den Familien, in den Vereinen, in der Gesellschaft, in den Behörden, in den Gemeinden der Kirche, unserer Kirche, geht es zu wie in der Welt draussen. Können die Boten des Friedens werden, die kaum ahnen, was Jesus unter dem Frieden verstanden hat, den die Welt nicht geben kann?
Die Art und Weise, wie heute in kirchlichen Kreisen über den Weltfrieden, über Abrüstung, über Militärwesen verhandelt wird, offenbart kein erbauliches Bild. Die einen, die da wähnen im Besitz eines neuen Glaubens zu sein, überhäuften mit beissendem Spott, was andern als alte Überlieferung geheiligt und unentbehrlich erscheint. Diese wiederum sind bemüht, bei ihren Brüdern Mangel an reiner Gesinnung und an Liebe zum Gemeinwohl zu schauen. Welche Unduldsamkeit, welche Leidenschaftlichkeit, welcher Fanatismus bei solchen, die als Nachfolger Jesu Boten des Friedens sein sollten. Sie streiten sich um die Tragweite des Gebotes: „Du sollst nicht töten“, vergessen dabei, wie Jesus dieses Gebot erklärt hat: „Ich aber sage euch: Wer seinen Bruder zürnt, wird des Gerichtes schuldig sein; wer aber sagt zu seinem Bruder: Boshafter! Der wird des hohen Rates schuldig sein; wer aber sagt: du gottloser! Der wird des Feuers der Hölle schuldig sein.“ (Matth 5,22) Diese Tatsachen genügen zur Erkenntnis, dass für die Angehörigen der Kirche zutrifft, was Paulus im Römerbrief sagt: „Und den Weg des Friedens haben sie nicht gekannt.“ (3,17) Nicht neuer Glaube, nicht neue Programme dieser oder jener Art, nicht neue Organisationen, sondern gründliche Erneuerung und Vertiefung der Religiosität und Kirchlichkeit an der heiligen Ordnung: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes“ ist der Weg zum Frieden. Das ganze Lebenswerk Jesu Christi ist darauf angelegt, wie er das im Evangelium nach Johannes in die Worte fasst: „Solches habe ich zu euch geredet, dass ihr Frieden haben in mir.“ (16,33)
In der Arbeit für Erneuerung und Vertiefung des religiösen und kirchlichen Lebens ist die Aufgabe der Kirche eingeschlossen, ihren Angehörigen in Predigt, Gottesdienst, Unterricht, Seelsorge und durch praktische Tätigkeit einzuschärfen, dass die im Evangelium niedergelegten Grundsätze der Güte, Freundlichkeit, Bruderliebe, die als persönliche Eigenschaften den Jünger des Herrn zieren sollen, in den sozialen Verbindungen, in die jedes von uns mit dem zunehmenden Alter hineinwächst, in Familie und Schule, in Beruf und Volksklasse, in Gemeinde und Kirche, in Gesellschaft und Staat ebenfalls verpflichtend sind. Alle diese Verbände sind nur denkbar, wenn in ihnen Gemeinschafts- und Verantwortlichkeitsgefühl, soziales Denken und Empfinden, Sinn und Verständnis für den Andern herrschen, wenn das Leben Dienst für den andern wird. Es liegt aber in diesen Verbänden eine grosse Gefahr für die Gesamtheit, wenn sich das Gemeindebewusstsein einseitig nach der Richtung des Egoismus ohne Rücksicht auf andere Gruppen entwickelt, wenn sie zu Interessengemeinschaften auswachsen und wenn diese im Kampf um ihre Ziele Mittel anwenden, die sie im privaten Verkehr verabscheuen. Eine Gefahr auch für die Völkerfamilie entsteht, wenn die einzelnen Völker sich nur als Interessengemeinschaften gegenüber andern in nationaler Selbstüberhebung fühlen und kein Mittel verschmähen, sich Geltung zu verschaffen. Misstrauen, Missgunst, Feindschaft und Hass sind die Folgen, Voraussetzungen des Krieges. Hier hat die Kirche versöhnend und vermittelnd einzugreifen mit der Botschaft vom ersten und einzigen Gesetz des Reiches Gottes, dem der Liebe.
Sie verhindert, dass der Dienst für den Andern auf eine einzige Gruppe beschränkt wird, sie gibt die Kraft zu Überwindung nicht nur des persönlichen, sondern auch des sozialen und nationalen Egoismus, sie ist das Band, das die Gruppen und Stände zu einem Ganzen in einem Volk, das die Völker zu einer Familie zusammenschliesst.
Die Liebe kann nicht befohlen, sie kann nicht durch Vernunftgründe begreiflich gemacht, sie muss geglaubt und getan werden. Als im Krieg die Leidenschaften über die Grenzen unseres Landes schlugen und unser Volk aufwühlten, da einte uns nicht nur die Liebe zur Heimat, sondern auch die Bruderliebe, die wir, ohne Rücksicht auf die Nationalität und Kriegspartei, an denen tun konnten, die unter der Not des Krieges litten. Es war wenig genug, das wir leisten konnten. Aber der Segen, der uns wurde, war gross. Wir lernten mit tätiger Bruderliebe Vorurteil und Voreingenommenheit überwinden.
Eine hohe Aufgabe ist der Kirche gegeben, in der Völkerfamilie Bruderliebe zu verkünden. Durchströmt diese Kunde die Welt, dann erscheint in ihrem Lichte alles, was ihr widerspricht als Sünde, dann erscheint die doppelte Moral, die nicht Beobachtung vertraglicher Verpflichtungen, der Krieg selbst als Sünde wider Gott und sein Reich, die Unterstützung der Friedensordnung an der gearbeitet wird, trotz ihrer Schwächen und Unvollkommenheiten als heilige Pflicht. Ein Redner in Prag hatte gesagt, das bekannte Wort: Wenn du Frieden willst, rüste den Krieg, müsse eine neue Form und einen neuen Inhalt bekommen: „Wenn du Frieden willst, liebe deinen Nächsten.“
Lasst uns versuchen, in solcher Weise für den Frieden zu arbeiten. Wir geben uns keiner Illusion hin, denn wir wissen, dass wir selbst schwache und sündhafte Menschen die Liebe als höchstes Gesetz des Gottesreiches in eine Welt der Sünde und Schwachheit tragen wollen. Aber „lasst uns nicht ermüden, Gutes zu tun“. (Gal 6,9) Es wird uns Kraft, wenn wir den Frieden in unsern Herzen tragen, den die Welt nicht geben kann. Es sei an ein Urteil eines bedeutenden Mannes unseres Landes über unsere Kirche erinnert. Er sagte, die Kirche kenne er nicht, aber überall, wo Werke der Nächstenliebe und Gemeinnützigkeit in unserm Lande durchgeführt werden, da stehen Mitglieder dieser Kirche stets in der ersten Reihe. Lasst uns auch dort in die ersten Reihen treten, wo in unserm Lande für soziale Gerechtigkeit und den Frieden gearbeitet wird. Das sei das soziale und pazifistische Programm unserer Kirche. Die einzige Direktive, die sie gibt, ist die Liebe zum Bruder. Es geschehe eindringlich, sie braucht sie dann nirgends in der Welt Geltung zu verschaffen. Jeder wird den richtigen Weg finden, um sein Bekenntnis durch Wort und Tat für den Friedensfürsten, unsern Herrn und Heiland, Jesus Christus abzulegen.
„Gnade euch und Friede von dem, der ist und der war und der sein wird.“ (Offb 1,4).
Amen.
Bern, Septuagesima 1929.
Dr. Adolf Küry, katholischer Bischof.