Wie kommen wir zu Entscheidungen?: Antwort auf Harald Reins Hirtenbrief von 2020

Lieber Bischof emeritus Harald,

die Wanderausstellung macht gerade Pause. Daher ergreife ich die Gelegenheit, dir zu schreiben und dir speziell für deinen Einsatz zum 150-jährigen Jubiläum der christkatholischen Kirche zu danken. Du hast zu diesem Thema auch selbst das Wort ergriffen, in deinem Hirtenbrief von 2020, 150 Jahre nach dem Ersten Vatikanischen Konzil.

In deinem Hirtenbrief schreibst du Dinge, die für das Spannungsfeld «Tradition und Erneuerung» der Wanderausstellung (mein Lieblingsthema, wie du weisst) wichtig sind. Besonders gut gefällt mir etwa folgende Aussage: «Wie geht man mit Fragestellungen um, die die biblische Lebenssituation gar nicht kannte (z. B. die Gleichberechtigung der Geschlechter und der Klimaschutz) oder unterschiedlich deutete (z. B. Formen der Familie und der Sexualität)? Wer Wahrheit so versteht, dass Entscheide in der Kirche Bisheriges prinzipiell nicht verändern dürfen, sondern lediglich nuancenhaft­ differenzieren, kann sich nur schwer weiterentwickeln.» Und dann wirfst du die Frage auf, «wie es zu Entscheidungen kommt bzw. wer entscheidet.»

Diese beiden Fragen hängen miteinander zusammen, aber sie sind nicht gleich. Ich bin der Meinung, typisch christkatholisch sei nicht die Frage «Wer entscheidet?», sondern die Frage «Wie kommen wir zu einer Entscheidung?» Der Entscheidungsprozess soll synodal verlaufen, das heisst, grundsätzlich ist die ganze Kirche daran beteiligt: Laien und Geistliche, Gemeindeglieder, kirchliche Behörden und theologische Fachleute, Bischof und Synode. Bei Entscheidungen, die über die eigene Ortskirche hinaus Bedeutung haben, sind auch die Internationale Bischofskonferenz, verschiedene internationale Gesprächsforen sowie gegebenenfalls die ökumenischen Partner beteiligt. Gut christkatholisch muss man diesen Diskussionsprozess nicht als Vorgeplänkel zur eigentlichen Entscheidung ansehen, sondern als umfassendes synodales Geschehen.

Man muss die Frage der Einheit des Glaubens und der Gemeinschaft der Kirche bedenken­ – dies die zentrale Aufgabe des Bischofs und des Presbyteriums. Der Blick auf die biblische Botschaft und in die Tradition der Alten Kirche ist unabdingbar, weswegen die Stimmen von Theologinnen und Theologen Gewicht haben. Der Glaubenssinn der gläubigen Menschen in der Kirche und die lebendige Tradition der Gegenwart können zeigen, ob die theologischen Überlegungen der Fachleute auch ausserhalb der akademischen Welt standhalten. Die Konsequenzen für das kirchliche Leben müssen bedacht werden, weshalb Kirchenräte, Kirchenpflegen, Kommissionen und Arbeitsstellen gehört werden müssen. ­– Keine dieser Instanzen ist, für sich genommen, unfehlbar, keine ist die oberste, die alle anderen überstimmen kann. Doch wenn die Kirche allen diesen Stimmen Raum gibt und im synodalen Miteinander um eine gemeinsame Entscheidung ringt, dann darf sie darauf vertrauen, dass der Heilige Geist in ihr am Werk ist.

Dein Hirtenbrief wurde 2020 (zu) wenig beachtet, weil damals alle mit der Coronapandemie und dem Leben im Lockdown beschäftigt waren. Es lohnt sich, ihn jetzt, nach deinem Abschied vom bischöflichen Amt, noch einmal zu lesen.

Adrian Suter, Pfarrer in Luzern und Leiter der Fachstelle Bildung