Bischof Leon Gauthier
(Maler: Franz Budweiser)

Gemeinschaft

Seine Überlegungen und Hinweise zum Schlüsselbegriff „Gemeinschaft“ erörtert Bischof Léon Gauthier in seinem Hirtenbrief von 1982. Im Zentrum der Überlegungen ist die christliche Gemeinschaft, in der der Mensch und nicht das Geld das wahre Kapital ist.

Bischofsweihe von Léon Gauthier

Person
Léon Gauthier

Amt
Bischof von 1972 bis 1986

Siegelwort
«J’ai vaincu le Monde» Joh 16,33

Lebensdaten
* 27.09.1912 in La Chaux-de-Fonds
† 03.12.2003 in Biel

Quellen | Literatur

Christkatholisches Kirchenblatt. Organ der Christkatholischen Kirche der Schweiz Nr. 5. Bern 1982.

Hinweis zum Bild

Das Bild zeigt die Bischofsweihe von Léon Gauthier durch seinen Vorgänger Bischof Dr. Urs Küry am 22. Oktober 1972 in der Kirche St. Peter und Paul in Bern.

Hirtenbrief auf die Fastenzeit 1982

„Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.“ (1 Johannes 1,3)

Leon Gauthier, Bischof der christkatholischen Kirche der Schweiz an die christkatholischen Gemeinden und an die Christkatholiken in der Diaspora auf die Fastenzeit 1982.

Die Gnade sei mit Euch!

Im Herrn Geliebte

Vom Kindergarten bis zur UNO und in allen Lebensbereichen ist heute das Wort „Gemeinschaft“ ein Zauberschlüssel. Auch bei uns Altkatholiken. Bekanntlich berufen sich unsere Kirchen von Anfang an auf die ursprüngliche Katholizität, die in der Glaubensgemeinschaft selbständiger katholischer Kirchen besteht. Richtig verstanden bedeutet diese Beschreibung, dass die Katholizität beständig nach aussen und nach innen wachsen kann, aber auch Rückschlägen ausgesetzt ist. Sie kann auch ihren Glauben unaufhörlich vertiefen, festigen und verlebendigen, aber auch Streite und Spaltungen erleben. Sie kann missionieren, sich ausbreiten und neue selbständige katholische Kirchen aufnehmen, aber auch unterdrückt, verfolgt und zum Verschwinden gebracht werden. Ihre inneren und äusseren Krisen überwindet sie durch die Verstärkung ihrer Glaubensgemeinschaft. Es gibt auf der Welt keine Macht, welche diese eine Kirche Christi endgültig zerstören oder sie daran hindern könnte, der vollen Ankunft des Reiches Gottes entgegenzugehen. Wir Altkatholiken haben auch gelernt, diese Glaubensgemeinschaft tiefer und richtiger zu verstehen, insbesondere in folgender Hinsicht. Wir haben gelernt:

« In allem bleibt ein Schlüsselwort massgebend: „Gemeinschaft“. Was ist aber unter „Gemeinschaft“ zu verstehen?

a) In den selbständigen Kirchen Bischofskirchen zu sehen;

b) Auch im Glaubenszeugnis der Kirche unaufgebbare Mitverantwortung der Priester und der Gläubigen wahrzunehmen;

c) In der Gemeinschaft der Bischöfe, besonders in den Konzilien, die Repräsentation und die Leitung der Katholizität, d.h. der in allen selbständigen Kirchen begegnenden einen und selben Kirche zu sehen,

Diese Erkenntnisse kommen dann auch zum Ausdruck in den gegenwärtig laufenden Vorbereitungen zur Revision der Verfassung unserer Kirche. In allem bleibt ein Schlüsselwort massgebend: „Gemeinschaft“. Was ist aber unter „Gemeinschaft“ zu verstehen? Dazu nun einige Überlegungen und Hinweise.

Gemeinschaft ein Wunder?

„Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Genesis 1,27). „Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht … Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heissen; denn vom Mann ist sie genommen“ (Genesis 2,18ff.). Nach den beiden biblischen Schöpfungsberichten ist also der Mensch von Natur aus ein gemeinschaftliches Wesen und zur Gemeinschaft bestimmt. Von alters her lehren Philosophen auf ihre Weise ähnliches. Ihrerseits versuchen die Biologen das Gemeinsame und das Besondere aller Lebewesen zu erklären. Das biblisch Spezifische liegt aber darin, die unlösliche Verbindung zwischen Schöpfer und Schöpfung hervorzuheben und in dem einen Gott die Gemeinschaft von Vater, Sohn und Heiligem Geist zu offenbaren, an der der Mensch teilhat.

„Nach den beiden biblischen Schöpfungsberichten ist also der Mensch von Natur aus ein gemeinschaftliches Wesen und zur Gemeinschaft bestimmt.“

Nun wie kommt es, dass die Menschen es so schwer haben, miteinander zu leben, und jetzt im Begriff sind, die Natur selber zu zerstören? Verhaltens- und Tiefenpsychologie sowie Gruppendynamik machen sich zur Aufgabe, dieses Übel zu ergründen und vor allem zu überwinden. Krankhafte Erscheinungen und Störungen können sie je nach Fall heilen. Wenn man aber die überall und immer aufs Neue auftauchenden und oft verheerenden Schwierigkeiten menschlicher Beziehungen und vor allem menschlichen Zusammenlebens ernst wahrnimmt, so muss man zum Schluss kommen, dass das Übel tiefer wurzelt, als man es allzuoft meint. Es ist wie ein Fluch, für den Glauben ist es eine Sünde. Denn die Sünde ist eben eine Auflehnung gegen Gott, gegen den Nächsten und gegen sich selber. Die Heilung geschieht in der Versöhnung mit Gott, dem Nächsten und gegen sich selber. Darum flehte Jesus seinen Vater an, dass seine Jünger „eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und Du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass Du mich gesandt hast und die Meinen ebenso geliebt hast wie mich“ (Johannes 17,22ff.). Die Vollendung in der Einheit für seine Jünger und mit ihnen hat Jesus nicht nur vom Vater erbeten, sondern selber am Kreuz und in seiner Auferstehung vollbracht. Denn Jesus hat durch sein Opfer und seine Auferstehung die beiden Hauptfeinde jeder wirklichen Gemeinschaft besiegt: die Sünde und den Tod. An dieser Stelle möchte ich den Sieg über die Sünde unterstreichen, denn die Sünde tötet die Seele und verunmöglicht oder vernichtet jede echte Gemeinschaft. Für Gläubige und Ungläubige bedeutet eine wirklich christliche Gemeinschaft ein Wunder, das Wunder der Liebe Gottes. Dies ist auch ein Hauptthema des ersten Johannesbriefes, den ich einleitend zitiert habe.

Gemeinschaft und Kirche

Wodurch zeichnet sich das Wunder christlicher Gemeinschaft aus? Die Antwort auf diese Frage gaben schon früh die Heiden: in ihren Augen war die Liebe der Christen füreinander kaum fassbar. Das berühmt gewordene Loblied christlicher Liebe findet sich nicht von ungefähr im ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther (Kap. 13), also an eine Gemeinde, die das nicht erbauliche Beispiel von inneren Spaltungen und Streitigkeiten, ja sogar von Unzucht gab. Nach zweitausend Jahren bleibt christliche Gemeinschaft noch ein Wunder.

Sind nun christliche Gemeinschaft und Kirche identisch, genau dasselbe? Man kann und darf die eine nicht ohne die andere denken, sie gehören wesensgemäss zusammen. Sie unterscheiden sich aber darin, dass christliche Gemeinschaft eine Seins- und Lebensweise ist, während die Kirche zugleich Strukturen und Institutionen hat: Lehranstalten und –mittel. Verfassung, Statuten, Behörden, Gemeinschaften, Vereinigungen, soziale Einrichtungen und nicht zuletzt Finanzen und Immobilien. Christliche Gemeinschaft wird dann offenbar – oder eben nicht – im Geiste, der kirchliche Einrichtungen und ihr Personal beseelt. Davon hier einige Merkmale:

  • Christliche Gemeinschaft übt Selbstzucht, niemals Selbstsucht, das heisst: Sie dient und prahlt nicht; sie kann gebieten müssen, herrscht aber nicht; sie kann zurechtweisen müssen, steht aber den Schuldigen hilfreich bei.
  • Christliche Gemeinschaft setzt im kirchlichen Leben und Wirken Prioritäten. Diese sind von sachlicher und dringlicher Art. Sachlich entscheidet nicht das, was einem oder mehreren gefällt oder missfällt, sondern das, was wirklich einen nötigen Zweck erfüllt. Was die Dringlichkeit betrifft, entscheidet immer menschliche Not, nah und fern, innerhalb oder ausserhalb der eigenen Gemeinde oder Kirche, und auch das, was für den Dienst Gottes und an den Menschen erforderlich ist. Für den Glauben ist der Mensch und nicht das Geld das wahre Kapital. Christen und Kirchen sind nur Verwalter ihrer Güter und sind für deren Anwendung Gott und ihrem Gewissen gegenüber verantwortlich.
  • In christlicher Gemeinschaft weiss man, dass Christus immer neben uns und den anderen steht. Darum hat man umso mehr Achtung vor den anderen, hütet man sich vor unsittlichem Benehmen, vor allem aber nimmt man sich der „geringsten Brüder“ Jesu an, das heisst aller an Leib und Seele Notleidenden.

Alles in allem überragt und durchdringt echte christliche Gemeinschaft alle kirchlichen und übrigen Institutionen und Gemeinschaften. Als Trägerin des Merkmals der „Heiligkeit“ offenbart auch sie, und zwar ganz prägnant, auch ausserhalb kirchlicher Grenzen, die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche.

„Für den Glauben ist der Mensch und nicht das Geld das wahre Kapital..“

Schlussfolgerungen

Wir üben uns in christlicher Gemeinschaft als Seins- und Lebensweise ein, wenn wir:

  • Auf Selbstsucht verzichten und in treuer Erfüllung unserer kirchlichen Verpflichtungen Selbstzucht üben.
  • In allen Bereichen und „Aktivitäten“ dem Gottesdienst in Gestaltung und Teilnahme die Priorität geben und persönliches sowie gemeinsames Beten und Hören auf das Wort Gottes pflegen.
  • Endlich unsere persönliche und kirchliche Bequemlichkeit durchbrechen und öffentlich wie kirchlich den „Gesättigten“ wie den Bedürftigen das Evangelium der inneren und äusseren Erlösung des Menschen predigen und ihm tatsächlich dienen.

Christliche Gemeinschaft kann überall erlebt und geübt werden, in kleinen Gemeinden und gar winzigen Gruppen wie an überdimensionierten Kirchentagen. Überall kann sie von überzeugender Qualität sein und wie Sauerteig wirken. Wenn wir Altkatholiken so denken und handeln, dann gibt es wirklich keinen unüberbrückbaren Widerspruch zwischen der Fülle unseres katholischen Anspruchs und unserer kleinen Zahl. Wir können uns im Gegenteil noch intensiver auf unsere Aufgaben besinnen und uns vorbereiten, dorthin zu gehen, wohin Gott uns führen will (Johannes 21,18). Wahre christliche Gemeinschaft kann Korrekturen erfahren, Prüfungen erleben, nie aber überwunden werden.

Dieses Hirtenwort habe ich absichtlich kurz und bündig gefasst. So lässt es sich leichter lesen und hören. Zugleich kann es als neuer Beitrag zum Thema „Leitbild der Kirche“, zur Vorbereitung des kommenden Internationalen Altkatholiken-Kongresses (7. bis 10. September 1982 im Wien) über unseren altkatholischen Weg und zur ökumenischen Diskussion, auch innerhalb der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Schweiz, über den „Lebensstil“ betrachtet werden.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen. Amen.

Bern, auf die Fastenzeit 1982

Léon Gauthier, katholischer Bischof