Der Hirtenbrief von Bischof Harald Rein thematisiert die Tatsache, dass im Sommer 2018 die Nationalsynode das 150. Mal tagt. Er verweist auf die Tatsache, dass die christkatholische Kirche immer schon eine religiöse Minderheit war. Eine Kirche, die nach Innen und Aussen ein wichtigen Beitrag für die Gesellschaft leistet. Dieser Beitrag ist auch in Zukunft zu erfüllen. Dabei geht er unter anderem den Fragen nach: „Aber was bedeutet das heute? Wie lassen sich die Identität und die Werte unserer Kirche aktualisiert am besten leben? Was müssen wir aufgeben, beibehalten, ändern oder intensivieren?“
Person
Harald Rein
Amt
Bischof von 2009 bis 2023
Siegelwort
«Nicht Menschenlob, nicht Menschenfurcht.» C. A. von Galen
Lebensdaten
* 01.10.1957 in Bochum
Hinweis zum Bild
Bischof Dr. Harald Rein salbt die Hände von Melanie Handschuh während ihrer Weihe zur Priesterin in der Augustinerkirche in Zürich.
An die Christkatholikinnen und Christkatholiken
Der Zukunft entgegen. Den Wandel gestalten.
„Die aber, die auf den Herrn hoffen, empfangen neue Kraft, wie Adlern wachsen ihnen Schwingen, sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und ermüden nicht.“ (Jes 40, 31)
Liebe Schwestern und Brüder,
Sich von etwas verabschieden, das als heilig gilt? Das haben vor gut 500 Jahren unsere reformierten Mitchristen/innen getan. Dazu brauchte es Überzeugung und Mut. Die Auseinandersetzungen in der Reformation wurden leidenschaftlich geführt.
Ähnlich war es bei der Entstehung unserer Kirche im Kontext des Ersten Vatikanischen Konzils und des Kulturkampfes in der Schweiz ab 1870. Man wollte zwar nichts über Bord werfen, was einem als heilig galt, sondern mit Bezug auf die Alte Kirche und in Opposition zu den Neuerungen des Ersten Vatikanischen Konzils (die beiden Dogmen von der Unfehlbarkeit und des Jurisdiktionsprimats) katholisch bleiben. Aber die direkt und später erfolgten Reformen hatten revolutionären Charakter: Liturgie in der jeweiligen Muttersprache anstatt Latein, Aufhebung der Pflicht zur Ohrenbeichte, Beendigung des Pflichtzölibats und Wiedereinführung eines bischöflich-synodalen Leitungssystems in der Kirche, durch das Laien wieder unmittelbar an der Kirchenleitung beteiligt wurden.
Im Sommer 2018 tagt unsere Nationalsynode das 150. Mal.
Aber was bedeutet das heute? Wie lassen sich die Identität und die Werte unserer Kirche aktualisiert am besten leben? Was müssen wir aufgeben, beibehalten, ändern oder intensivieren?
Bevor wir uns aber mit diesem Thema inhaltlich auseinander setzen, müssen wir – so meine ich – aufhören, wie das Kaninchen auf die Schlange, auf die Mitgliederzahl zu schauen. Heute haben wir schweizweit mindestens 12‘000 Mitglieder (davon die Hälfte in den Kantonen Aargau und Solothurn). Auch wenn die Mitgliederzahl in den letzten zwanzig Jahren wieder von 11‘000 auf 12‘000 gestiegen ist, ist leider Tatsache: in den Anfängen waren es 75‘000. Wenn man das Bevölkerungswachstum mitrechnet, müssten es ohne Verluste gegenwärtig theoretisch 225‘000 Mitglieder sein. Was haben wir falsch gemacht? Was gibt es überhaupt zu feiern? Oder sollten wir – diese Stimmen gibt es in unserer Kirche auch – ein Auflösungsszenario planen?
Meines Erachtens haben wir wenig falsch gemacht. Denn wir sind das Opfer unseres eigenen Erfolges geworden, nämlich unserer „Liberalität“.
Meines Erachtens haben wir wenig falsch gemacht. Denn wir sind das Opfer unseres eigenen Erfolges geworden, nämlich unserer „Liberalität“.
Die Statistiken belegen, dass unsere Mitglieder früher ihrer Kirche bis zum Tode treu blieben, aber bei Heiraten die Beibehaltung der Konfession ihres Ehepartners / ihrer Ehepartnerin akzeptierten und beim Wohnen in der Diaspora (ausserhalb der christkatholischen Hochburgen) dies auch für die Kinder so hielten. Es ist logisch, dass man auf diese Weise in 100 Jahren „ausblutet“. Erst vor 30 Jahren hat hier ein Wandel eingesetzt, der die Mitgliederzahlen wieder leicht ansteigen liess. Hinzu kommt, dass sich heute aufgrund der verbesserten Mobilität auch in der Diaspora der Kontakt zu einer christkatholischen Kirchgemeinde gut halten lässt.
Zugleich waren und sind wir eine religiöse Minderheit. Dies wird von vielen unserer aktiven Mitglieder verdrängt durch die Überhöhung des historisch bedingten öffentlich-rechtlichen Status einer dritten Landeskirche. Unsere Kirche ist statistisch eine Kleinkirche, auch wenn viele von uns dieses Wort nicht gerne hören. Dabei könnte diese Einsicht und Akzeptanz befreiend wirken. In der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen der Schweiz mit bald über 20 Mitgliedern, sind nur 3 Kirchen grösser als wir. Wir leisten nach Innen und Aussen sehr viel. Es ist unsere Aufgabe, unseren Beitrag (Christ sein in christkatholischer Identität) vor Gott und den Menschen zu erfüllen, solange es uns gibt.
Unsere heutigen Herausforderungen
Lösungsansätze für unsere Zukunft unter dem Aspekt der Struktur
Unser Kirchenverständnis besagt: Bischöflich-synodal meint nicht nur, dass die Kirche von Bischof und Nationalsynode gemeinsam geleitet wird, sondern primär, dass jede Christin und jeder Christ Trägerin oder Träger des Heiligen Geistes ist und dass die Aufgabe des Bischofs darin besteht – orientiert an der Bibel und der Tradition – den Prozess von Wahrheits- und Entscheidungsfindung im Konsens zu begleiten und mitzugestalten. Geistliche und Laien unterscheiden sich dabei nur in ihren unterschiedlichen Schwerpunktaufgaben und Diensten. Jeder ist dabei sowohl seinem persönlichen Gewissen als auch der Gemeinschaft verpflichtet. Wir entscheiden – wenn möglich – alles gemeinsam.
Bischöflich-synodal meint nicht nur, dass die Kirche von Bischof und Nationalsynode gemeinsam geleitet wird, sondern primär, dass jede Christin und jeder Christ Trägerin oder Träger des Heiligen Geistes ist und dass die Aufgabe des Bischofs darin besteht den Prozess von Wahrheits- und Entscheidungsfindung im Konsens zu begleiten und mitzugestalten.
Die Abwehr autoritärer monarchischer Machtansprüche und die Einbettung in den politischen Kulturkampf führten bei der Entstehung unserer Kirche im Hinblick auf das gerade skizzierte Kirchenverständnis zu einem einmaligen Phänomen mit Vorbildcharakter. Die Ortskirche bzw. das Bistum wird von Bischof und Nationalsynode geleitet, aber zugleich sind die Kirchgemeinden autonom. Daher sind sehr viele Synodebeschlüsse zwar moralisch verbindlich, aber rechtlich nicht einklagbar. Das mag zwar im Geiste der Gründergeneration so angelegt gewesen sein. Wie das damals aber praktisch ausgesehen hat, und ob und wie es heute noch funktionieren kann, ist eine andere Frage. Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen aufzeigen:
Eigentlich sollten wir uns auf unsere inhaltlichen Herausforderungen konzentrieren. Die finanziellen Mittel sind ausreichend. Die Frage ist nur die der gerechten Verteilung und dem Einsatz aus einer inhaltlichen Gesamtsicht heraus. Tatsache ist aber leider, dass viele Versuche von Bischof und Synodalrat auf diese Themen hin zu sensibilisieren auch Abwehr und Protest geweckt haben. Auf der sachlichen Ebene hiess es: es widerspricht unserer Identität und Kultur. Auf der emotionalen Ebene hiess es: das kommt nicht in Frage, wir sind doch nicht im Bistum Chur. Dies zeigt, dass es bei scheinbar profanen Finanzfragen um zentrale Themen unserer Identität geht, die mehr als ernst genommen werden müssen. Diese Diskussion braucht ihre Zeit.
Tatsache ist aber auch, dass kantonal und regional bereits einiges in dieser Hinsicht geschieht. Kirchgemeinden gründen Interessenverbände für ihre Personaladministration und die Verwaltung ihrer Liegenschaften und koordinieren den Einsatz ihrer Geistlichen. Bischof und Synodalrat unterstützen diese Bestrebungen und sind beratend behilflich.
Wichtiger dünkt mich die grundsätzliche Diskussion darüber mit dem Ziel, die Zukunft unserer Kirche inhaltlich und strukturell besser zu gestalten.
Hier liegt ein Lösungsschlüssel. Man muss ja gar nichts an der Verfassung ändern und die grundsätzliche Gemeindeautonomie in Frage stellen. Vieles liesse sich im Sinne unserer Identität über Gemeindeordnungen, Reglemente und zeitlich begrenzte Verträge regeln. So blieben die Nationalsynode und die Kirchgemeindeversammlungen gleichwertig. Wichtiger dünkt mich die grundsätzliche Diskussion darüber mit dem Ziel, die Zukunft unserer Kirche inhaltlich und strukturell besser zu gestalten. Gerade die 150. Nationalsynode bietet dafür eine grosse Chance.
Ich stelle mir das so vor:
Als Bild und im Bibelwort steht der Adler als Motto über diesem Hirtenbrief. Der Adler ist im Christentum ein Symbol für vieles, was unsere Kirche braucht: Wiedergeburt, Verjüngung und Reform, aber auch Durchhaltevermögen, ohne zu ermüden:
Wir können die Zukunft gestalten, aber nicht bestimmen.
„Die aber, die auf den Herrn hoffen, empfangen neue Kraft, wie Adlern wachsen ihnen Schwingen, sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und ermüden nicht.“ (Jes 40,31)
Ich wünsche uns dabei im Heiligen Geist viel Kraft, Mut, Zuversicht und Ausdauer. Albert Einstein schrieb im Februar 1930 an seinen Sohn Eduard: „Das Leben ist wie ein Fahrrad. Man muss sich vorwärts bewegen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.“ Wir können die Zukunft gestalten, aber nicht bestimmen.
Bern, in der Fastenzeit 2018
Bischof Dr. Harald Rein