Der Zukunft entgegen. Wohin geht unsere Reise? Wie wollen wir die Segel setzen?

In seinem fünften Hirtenbrief von 2014 knüpft Bischof Harald Rein an seinen ersten Hirtenbrief an. Seine Gedanken erläutert er in den Bereichen:„Beibehaltung des Status quo. Das Christkatholische Schiff bleibt im Hafen!“, „Wir fahren hinaus und haben in 10 Jahren 20‘000 Mitglieder!“ sowie „Wir fahren hinaus und wagen Neues in der Schweiz! – Mit den Anglikanern?“. Für ihn ist eine gemeinsame Zukunftsvision Voraussetzung, um miteinander los zu segeln sowie die Kräfte zu bündeln und Prioritäten zu setzen.

Harald Reinerklärt Annahme seiner Wahl zum Bischof
(Quelle: Bischöfliches Archiv)

Person
Harald Rein

Amt
Bischof von 2009 bis 2023

Siegelwort
«Nicht Menschenlob, nicht Menschenfurcht.» C. A. von Galen

Lebensdaten
* 01.10.1957 in Bochum

Hinweis zum Bild
An der 141. Session der Nationalsynode 2009 in Olten wird Pfr. Harald Rein im zweiten Wahlgang zum siebten Bischof der Christkatholischen Kirche der Schweiz gewählt. Auf dem Bild erklärt er die Annahme seiner Wahl.

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2014

An die christkatholischen Kirchgemeinden

Der Zukunft entgegen. Wohin geht unsere Reise?

Wie wollen wir die Segel setzen?

„Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, Spruch des Herrn.“ 

(Jesaja, 55,8)

Liebe Schwestern und Brüder,

In meinem fünften Hirtenbrief möchte ich an meinen ersten Hirtenbrief „Quo vadis?“ von 2010 anknüpfen, ausgehend von der Frage: „Wo stehen wir heute? Und wohin geht unsere weitere Reise?“ In vielen Kirchenliedern wird die Situation der Kirche in der Welt mit einem Schiff auf hoher See verglichen. Wohin ihre Reise geht, hängt sowohl davon ab, woher der Wind weht, als auch wie sie die Segel setzt. In der heutigen Zeit „reisen“ viele Menschen nur noch um des Reisens willen, hören aber nur wenig auf sich selbst und ihr Inneres, warum und wie sie reisen sollten. So müssen sich auch Kirchen vor reinem Aktionismus hüten und zuerst in Ruhe überlegen, auf welche Winde sie wie reagieren sollen, wollen, können, müssen …

Auch die Kirchen müssen sich vor reinem Aktionismus hüten und zuerst in Ruhe überlegen, auf welche Winde sie wie reagieren sollen, wollen, können, müssen …

Daher möchte ich den inhaltlichen Austausch über die Zukunft unserer Kirche intensivieren. Damit dieser nicht nur theoretisch bleibt, macht es Sinn, die hier skizzierten Szenarien zu prüfen bzw. mit ihnen kreativ zu spielen. Ich stelle mir unter anderem auf der diesjährigen Nationalsynode und ihren verschiedenen Vorbereitungsversammlungen Gruppenarbeiten mit drei Arbeitsthesen / Szenarien vor, für die wir Strategien entwerfen und konkrete Ziele formulieren:

1. Beibehaltung des Status quo. Das Christkatholische Schiff bleibt im Hafen!

2. Wir fahren hinaus und haben in 10 Jahren 20‘000 Mitglieder!

3. Wir fahren hinaus und wagen Neues in der Schweiz! – Mit den Anglikanern?

Der Synodalrat hat sich bereits auf seiner Klausurtagung Ende Dezember 2013 darüber Gedanken gemacht. Auch Sie lade ich ein und gehe davon aus, dass sich die Nationalsynode 2014 bei diesem Traktandum am ersten Verhandlungstag für alle Interessierten öffnen wird. Ich würde mich freuen, Sie am Freitag, den 13. Juni, in Bern zu sehen.

1.  Beibehaltung des Status quo. Das Christkatholische Schiff bleibt im Hafen!

Schiffe sind im Hafen am sichersten, aber sie sind nicht dafür gebaut worden, um im Hafen zu bleiben. Stürme und Brände können unter Umständen ein Schiff auch im Hafen schädigen. Hinzu kommt die Gefahr des Verrostens. Daher muss ein vor Anker liegen bleiben mit allen Vor- und Nachteilen gut überlegt sein. Bei Gefahren, die auch im Hafen auftreten können, denke ich aktuell an die immer schneller fortschreitende Entflechtung von Staat und Kirche mit einschneidenden finanziellen Konsequenzen für die bisher Privilegierten. Nach Umfrageergebnissen werden alle Landeskirchen weiter mit einem kräftigen Aderlass rechnen müssen. Denn zwei Drittel ihrer Noch-Kirchenmitglieder bezeichnen ihr Verhältnis zu ihnen als distanziert. Käme es zu einer Trennung vom Staat und die bisherigen Landeskirchen müssten sich neu vereinsrechtlich organisieren, blieben ihnen vermutlich noch zwischen 10% bis maximal 20% ihrer bisherigen Mitglieder. In unserer Kirche, die in solchen Umfragen nicht separat erhoben wird, gehe ich von 50% aus. Allerdings müssen wir uns dabei folgender zwei Aspekte bewusst sein. Erstens ist Stillstand gar nicht möglich. Denn auch der Erhalt des Status quo erfordert Massnahmen. Sei es, dass wir entweder empfindlich sparen (weniger Kirchgemeinden und weniger Pfarrstellen) oder dass wir durch Opferbereitschaft die Eigenfinanzierung massiv erhöhen (z.B. durch den biblischen „Zehnten“). Zweitens wird es bei dieser Strategie in hundert Jahren zwar noch einzelne Christkatholische Kirchgemeinden geben, aber um als Landeskirche und als Bistum funktionieren zu können, würden wir vermutlich die kritische Grösse unterschreiten. Ich denke hier zum Beispiel an unser Departement an der Theologischen Fakultät Bern (wir könnten vermutlich keine spezifisch universitäre Ausbildung für den Klerus mehr anbieten) und unsere Mitgliedschaften bei verschiedenen Organisationen. Unsere österreichische, etwa gleich grosse Schwesterkirche, die primär auf einen freiwilligen Kirchenbeitrag angewiesen ist, hat 11 Kirchgemeinden und 10 hauptamtliche Geistliche. Vergleichen Sie das einmal im Jahrbuch mit unseren jetzigen Strukturen. Ähnliches gilt auch für unsere anglikanische Schwesterkirche in der Schweiz und unsere orthodoxen Schwesterkirchen.

Zugleich sind wir für ein solches Szenario gut trainiert.  Schon jetzt funktionieren aufgrund unserer Kleinheit nur noch die Kirchgemeinden finanziell gut, die neben Kirchensteuer und Staatsbeiträgen etwa 50% der Unkosten durch andere Einnahmen (Vermögenserträge, Stiftungen, Spenden) erzielen. Auch sind wir, weil unser Bistum die gesamte Schweiz umfasst, durch unsere Kirchgemeinden in der Romandie  –  wo Staat und Kirche bereits in den meisten Kantonen getrennt sind – auf andere Ausgangslagen sensibilisiert. Dieses Szenario würde uns nach Innen und Aussen die grösste Freiheit bzw. den weitesten Gestaltungsspielraum ermöglichen. Der Status einer Landeskirche hat Vor- und Nachteile und sollte daher auch nicht beim Selbstwertgefühl von Kirchenmitgliedern überbewertet werden.

In seiner Klausur im Dezember 2013 setzte der Synodalrat für das Szenario 1 folgende Prioritäten: Gottesdienste primär konzipieren für diejenigen, die regelmässig kommen; intensive Seelsorge und mehr Erwachsenenbildung für unsere Mitglieder.

Mir ist bewusst, dass man aus dem ersten Szenario unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen bzw. es als Szenario auch von vornherein anders betiteln und beschreiben kann, wie zum Beispiel als ein Hinaussegeln, als ein Hinaussegeln mit gebrochenem Ruder, aber auch als ein Sterben im Hafen.

2.  Wir fahren hinaus und haben in 10 Jahren 20‘000 Mitglieder!

Was ist die Ursache für unsere Schwierigkeiten? Es gibt nicht eine Ursache, sondern mehrere. Meiner Wahrnehmung nach ist unser kontinuierlicher Mitgliederrückgang seit unserer Entstehung auf folgende zwei Hauptursachen zurückzuführen, die – ökumenisch betrachtet – auf den ersten Blick sogar positiv sind: nämlich die (falsch verstandene) Liberalität bei Trauungen und Taufen und vor allem die fehlende Einsicht, „missionarisch“ tätig sein zu müssen. Zu lange haben wir im Bewusstsein einer katholischen Reformelite erwartet, dass unzufriedene römisch-katholische Glaubensgeschwister eigentlich von selbst beitreten müssten und wir daher gar nicht „missionieren“ müssen oder unter „Mission“ nur mehr Öffentlichkeitsarbeit verstehen. Der biblische Missionsauftrag meint aber, den christlichen Glauben den Menschen in Wort und Tat generell zu verkünden und sie so für das Evangelium zu begeistern. Hinzu kommt, dass Menschen, die überhaupt noch in einer Kirche aktiv sind, ihre eigene Kirche verändern möchten und nicht woanders beitreten. Also müssen wir – was eigentlich Aufgabe einer jeden Kirche ist – versuchen, den Menschen eine kirchliche Heimat zu geben, die auf Sinnsuche sind.

Zwischen 1990 bis 2010 ist unsere Kirche wieder von 11500 auf 13500 Mitglieder gewachsen. Hier gäbe es viel Positives zu berichten:  Öffentlichkeitsarbeit (Sternschnuppen in mehreren Gemeinden, besondere Projekte), Regionalisierungen, regionale Kirchentage, neue Konzepte in der Jugendarbeit usw. Trotzdem wachsen wir nur in den grossen Ballungszentren, wie z.B. im Raum Basel, Bern, Genf und Zürich; während in unseren historischen Hochburgen und Landgemeinden die Überalterung der Kerngemeinden weiter fortschreitet und die Beitrittszahlen eher bescheiden sind. Hier wäre mehr „Fahrt“ beim Segeln wünschenswert. Dabei gilt: Unser bischöflich-synodales System als Konsenskultur kann nur funktionieren, wenn die Menschen, die es tragen, darin wirklich beheimatet sind. Wie entwickeln wir Modelle von mehr Wachstum und Integration zugleich? Auf der Synodalratsklausur im Dezember 2013 wurden zu Szenario 2 folgende Prioritäten genannt: Milieu-Studie mit Zielgruppen identifizieren, Spiritualität, verschiedene Gottesdienstformen, Basisgemeinden in der Diaspora, mehr Kinder- und Jugendarbeit, Einbezug aller Generationen, Wiedererkennungseffekt, mehr Medienpräsenz, Heimat bieten, Beziehungen und Freundschaften pflegen und positive Erlebnisse von Wachstum zwischen den Kirchgemeinden austauschen und voneinander lernen.

Die Vor- und Nachteile dieses Szenarios hängen primär davon ab, wie wir es umsetzen.

3.  Wir fahren hinaus und wagen Neues in der Schweiz! – Mit den Anglikanern?

Unsere Kirche ist im Konflikt um die neuen Lehren der Unfehlbarkeit und des Jurisdiktionsprimates des Papstes in Glaubensfragen nach dem Ersten Vatikanischen Konzil entstanden und sah sich als die legitime Fortsetzung der katholischen Kirche des Abendlandes, während die Mehrheit „römisch“ wurde. Theologisch betrachtet richtig, soziologisch gesehen nicht durchsetzbar. Diese Ambivalenz drückt sich bei römisch-katholischen Glaubensgeschwistern in der Haltung aus: „Wenn wir so weit sind wie ihr, könnt ihr ja zurückkommen“, und bei Christkatholiken/innen in der Überzeugung, dass in der Geschichte moralisch letztlich der „siege“, der Recht bekomme.

Daher haben unsere Gründungsväter bereits rasch nach der Entstehung unserer Kirche den Kontakt zu den orthodoxen und den anglikanischen Kirchen gesucht. In ihnen erblickten sie – nur kulturell verschieden und in anderem historischen Kontext entstanden – ihr Spiegelbild einer katholischen bischöflich-synodalen Kirche, die von Geistlichen und Laien gemeinsam unter Moderation eines Bischofs im Konsens geleitet wird. Diese Beziehungen wurden vertieft und sehr gepflegt. Tatsache ist aber, dass wir zurzeit wegen der Frage der Frauenordination und anderen kulturellen Faktoren die seit 1987 ins Auge gefasste Kirchengemeinschaft mit den orthodoxen Kirchen aus deren Sicht nicht realisieren können. Erfreulich ist, dass die Beziehungen und die seit 1931 bestehende Kirchengemeinschaft mit den anglikanischen Kirchen enger werden. Das Migrationsphänomen der sogenannten „overlapping jurisdictions“[1] in Kontinentaleuropa verlangt dort – prinzipiell gesehen – nach einer „gemeinsamen Kirche“, wenn wir unserem bisherigen Einheitsverständnis treu bleiben, kulturelle Verschiedenheiten nicht überbewerten und nach wie vor bestehende theologische Unterschiede klären können. Allerdings würde ein solcher Weg nicht nur unser bisheriges Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche und zu den orthodoxen Kirchen verändern, sondern zum Teil auch unsere eigene Identität. Aber vielleicht ist es das, was Gott mit uns heute im Hinblick auf unseren ökumenischen Grundauftrag vorhat? Nämlich nach Einführung der Frauenordination nun die Brücke zu bauen zu den reformatorischen Kirchen mit bischöflich-synodaler Struktur und altkirchlichem Einheitsverständnis. Dazu gehören in Kontinentaleuropa nicht nur die Anglikaner, sondern auch die (lutherische) Kirche von Schweden. Auf Kommissionsebene liegen die Dialogtexte der altkatholischen Kirchen mit der Kirche von Schweden vor. Über diese werden wir ja auch auf der Nationalsynode 2014 reden. Allerdings geht es jetzt nur um die Zusammenarbeit mit den Anglikanern in der Schweiz, die natürlich auch in diesem noch offenen Klärungsprozess frei sind, ihre Entscheidungen zu treffen und uns ihre Fragen zu stellen.

Der schwierigste Punkt dürfte wohl die praktische Umsetzung sein. Als ersten Schritt könnte ich mir vorstellen, dass unser Bistum (Kirchgemeinden) und unsere Nationalsynode (deren Delegierte) sich neu aus territorialen (christkatholischen) Kirchgemeinden mit französischer, italienischer und deutscher Muttersprache und aus personalen (anglikanischen) Kirchgemeinden mit englischer Muttersprache konzipiert und alle anderen Fragen später gemeinsam geklärt werden; aber natürlich mit einem Ortsbischof und einem Synodalrat. Hinzu kämen aus sprachlichen und kulturellen Gründen die entsprechenden bischöflichen Vikare.

Dieses Szenario wäre wohl die grösste Herausforderung. Denn im Blickfeld struktureller Konsequenzen müssten bisher nicht geklärte theologische und nicht-theologische Differenzen aufgearbeitet werden. Dafür seien hier nur zwei nicht unbedeutende Beispiele genannt: Wann und wie die Firmung? Kirchensteuer oder freiwilliger Kirchenbeitrag?

Später könnten sich einem solchen Modell – wenn sie möchten – auch unsere orthodoxen Schwesterkirchen anschliessen, die ja auch einen intensiven theologischen Dialog mit den anglikanischen Kirchen führen. Alle drei Kirchen (anglikanische, altkatholische und orthodoxe) haben ein identisches Einheitsmodell orientiert an der sogenannten Alten Kirche und sind eigentlich um der Verkündigung des Evangeliums Willen verpflichtet, gemeinsam die Frohe Botschaft zu verkündigen und vorzuleben.

Die Frage nach dem Willen Gottes und was er mit uns vor hat

Als Christinnen und Christen sind wir beim Thema dieses Hirtenbriefes besonders herausgefordert. Denn es geht ja nicht darum, was wir wollen, sondern darum, was Gott will bzw. mit unserer Kirche in seiner Heilsgeschichte vorhat. Diese generelle Fragestellung beschäftigte schon im Alten Testament existentiell die im Exil lebenden Israeliten und den Propheten Jesaja:

„Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, Spruch des Herrn.“ 

(Jesaja, 55,8)

Meine Gedanken – sagt Gott – sind nicht zu messen an euren Gedanken, und meine Möglichkeiten nicht an euren Möglichkeiten. So hoch der Himmel über der Erde ist, so weit reichen meine Gedanken hinaus über alles, was ihr euch ausdenkt, und so weit übertreffen meine Möglichkeiten alles, was ihr für möglich haltet.

Trotzdem macht es Sinn, dass wir unser Leben zu planen versuchen; als Einzelne, als Gruppe und auch als Kirche. Denn erst im Rückblick erfassen wir oft, dass wir unseren Lebensweg mit seinen unendlich vielen Biegungen, Steigungen und Engpässen bei allem eigenen Tun und Lassen oft gar nicht selbst in der Hand hatten. Wir sind hinein verwoben in äussere Umstände, Entwicklungen, Zwänge und Fügungen, die unser Leben bestimmen: Meine Gedanken – sagt Gott – sind nicht zu messen an euren Gedanken, und meine Möglichkeiten nicht an euren Möglichkeiten.

Wenn wir die in diesem Hirtenbrief aufgeworfene Zukunftsfrage diskutieren, haben wir erst einmal allen Grund, Gott dankbar zu sein. Es war sein Wille, dass sich unsere Vorfahren gegen die neuen Lehren des Ersten Vatikanischen Konzils wehrten und aus dieser Opposition heraus die Christkatholische Landeskirche entstand. Diese war allein ökonomisch schon ein Wunder und gab all denen Heimat und die Sakramente, die aus der (römisch-) katholischen Kirche aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen wurden.

140 Jahre später leben wir aber in einem total veränderten Umfeld. Der postmoderne Staat geht langsam auf Distanz zu den Kirchen. Die römisch-katholische Kirche wächst aufgrund der Migration und ist Reformen nicht abgeneigt. Die Unfehlbarkeit und der Jurisdiktionsprimat werden aber vermutlich nicht so schnell in einem neuen Lichte gesehen. Unsere orthodoxen und anglikanischen Schwesterkirchen sind durch die Migration ebenfalls in der Schweiz vertreten und sind wie wir im Hinblick auf ein altkirchliches Einheitsmodell von Ortskirche in den gegenseitigen Beziehungen besonders gefordert. Wie nehmen wir diese Herausforderungen an? Bleiben wir im Hafen und halten uns alle Optionen offen? Setzen wir die Segel? Wohin fahren wir? Welchen Routen lassen sich miteinander kombinieren? Welche nicht? Allein schon die Reisevorbereitungen dürften spannend werden. Und dabei müssen wir auch ehrlich sein, zu uns selbst und den anderen. Denn bei allem Respekt und grosser Verbundenheit ist aufgrund der von dort bisher kommenden Signale zurzeit kein eigenes Szenario mit den orthodoxen Kirchen (wegen der Frauenordination und anderen kulturellen Faktoren) und / oder mit der römisch-katholischen Kirche (wegen der Frage des Jurisdiktionsprimats und der Frauenordination) möglich.

Von dem bekannten Philosophen Martin Buber stammt sinngemäss der Satz: „Wirkliches Leben ist Begegnung. Wer das nicht bemerkt, trifft immer nur sich selbst!“ Oder anders gesagt: Man sieht immer so viel, wie die Brille zulässt, die man aufgesetzt hat.

Ich lade Sie daher ein, dass wir uns begegnen! Und miteinander herausfinden, wohin unsere Reise geht und wie wir unsere Segel setzen wollen. Dazu gehört auch der Austausch darüber, was wir für typisch christkatholisch ansehen und vor allem warum und welches Szenario und/oder welche Kombinationen wir im Hinblick auf unsere Identität priorisieren und / oder welche Szenarien wir miteinander kombinieren möchten.

Bei meinem Amtsantritt 2009 fragte mich ein Journalist in einem Interview: „Wenn Sie siebzig sein werden – das ist in 18 Jahren -, wird es dann die Christkatholische Kirche noch geben, die heute rund 13.000 Mitglieder zählt?“ Meine Antwort hiess und heisst: „Ich bin sehr optimistisch. Wenn Sie in die Kirchgengeschichte schauen, gab es schon grössere Kirchen als die unsere, die von der Bildfläche verschwunden sind, und es gab kleinere, die an Boden gewonnen haben. Was Gott mit uns vorhat, wissen wir nicht. Meine Aufgabe besteht darin, mit Gottes Hilfe einen guten Job zu machen. Ob die Christkatholische Kirche sich verzehnfacht oder sterben wird, liegt primär nicht in meiner Macht.“

Allerdings habe ich in einem Punkt meine Meinung geändert bzw. die vorhandene fokussiert: Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass es der Wille Gottes ist, dass Kirchen, die einander ähnlich sind und heute keine schwerwiegenden Gründe für ein weiteres getrenntes Existieren mehr erkennen können, sich um der Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft willen zusammenschliessen sollten, wenn sie sich territorial überschneiden und eine offizielle Kirchengemeinschaft besteht.

Eigentlich sage ich in diesem Hirtenbrief nichts Neues. In vielen Gremien und in unseren Medien wird über die Zukunft unserer Kirche direkt und indirekt diskutiert. Ich möchte hier nur auf zwei Artikel in „Christkatholisch“ hinweisen: In der Nummer 14/2013 ging es um das Verhältnis zwischen sogenannten geborenen (80%) und beigetretenen (20%) Christkatholiken/innen unter dem Titel „Alte Zöpfe und nervige Revoluzzer“ und in der Doppelnummer 15-16/2013 warf ein Gemeindepfarrer sehr provokant die Frage und zugleich Forderung auf „Auftrag erledigt, Kirche erledigt? Trotz einer glorreichen Vergangenheit herrscht über die Zukunft der Kirche Unklarheit“. Trotzdem nehme ich unsere Kirche aufgrund sehr verschiedener Ursachen seit dem Jahre 2000 wie paralysiert wahr oder sehr statisch. Es passiert entweder nichts oder nur lokal und es wird in zu viele Richtungen gezogen. Den einen sind die Anglikaner zu „protestantisch“, den anderen die Orthodoxen kulturell zu fremd. Wieder andere wollen gezielt bei der römisch-katholischen Kirche „fischen“, was meiner Überzeugung nach nicht geht. Es fehlt eine gemeinsame Zukunftsvision von dem, was wir als Kirche allgemein und als Christkatholische Kirche wollen. Nur wenn das geklärt ist und alle gemeinsam überzeugt in die gleiche Richtung lossegeln, ist es möglich, die Kräfte zu bündeln und Prioritäten zu setzen.

Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass in solchen Situationen die Mitglieder unserer Kirche nach dem „Wort des Bischofs“ rufen. Aber in unserem bischöflich-synodalen System sehe ich meine Rolle primär darin, als geistliches Oberhaupt der Kirche einen Prozess unter Einbezug aller in Bewegung zu setzen und nicht allein den Weg bzw. die Reise vorzugeben. Denn niemand besteigt ein Schiff, mit dem er nicht fahren will. Sonst kommt es nicht gut. Das bedeutet aber nicht, dass ich keine Meinung habe und sie nicht sage. Die Frage ist vielmehr, ob man es – je nach aufgesetzter Brille – sehen will und kann. Und das nehme ich sehr ernst. Ist doch jede/r Christ/in Träger/in des Heiligen Geistes und in die Leitung der Kirche mit dem Bischof eingebunden. Sie sind eingeladen, mit die Segel zu setzen und den Kurs mit zu bestimmen.

Bern, in der Fastenzeit 2014

Bischof Dr. Harald Rein


[1] Mit „overlapping jurisdictions“ ist folgendes Phänomen gemeint: Zwei Ortskirchen, die auf zwei verschiedenen Territorien / Ländern beheimatet sind und sich gegenseitig als Kirchen voll anerkannt (Kirchengemeinschaft, in Englisch: full communion) und als ökumenisches Ziel auch die sichtbare Einheit der Kirche haben, “überschneiden“ sich durch Migration auf einem anderen bzw. dritten Territorium oder sogar auf dem eigenen. Das müsste nicht nur theologisch (volle Amts- und Sakramentsgemeinschaft), sondern auch strukturell (nur eine Synode und ein Bischof an einem Ort) gelöst werden. Bei der praktischen Umsetzung sind vor allem kulturelle Faktoren eine grosse Hürde, wie zum Beispiel Sprache, Gottesdienstgestaltung, Umgang mit Hierarchien.