Die christkatholische Kirche unterstreicht, dass der Glaube die Menschen befreien und nicht einengen soll. Das Pauluswort aus dem zweiten Korintherbrief, «Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit», das Bischof Eduard Herzog zum Siegelwort wählte, spielt bis heute eine wichtige Rolle für den Christkatholizismus.
Freiheit ist nicht grenzenlos, auch nicht im Christkatholizismus. Aber wie legt die christkatholische Kirche fest, was verbindlich gelten soll und wo Freiheit herrschen soll? Heute steht über der Verfassung der Christkatholischen Kirche der Schweiz das Zitat: «Im Notwendigen Einheit, in Zweifelsfragen Freiheit, in allem die Liebe.» Dieser Satz ist wichtig für das christkatholische Verständnis von Verbindlichkeit und Freiheit.
Im lateinischen Original lautet der Satz: «In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas.» Früher wurde das Zitat oft dem Kirchenvater Augustinus zugeschrieben, der 354 bis 430 lebte, das Zitat ist aber erst in viel späterer Zeit bezeugt: 1617 im Hauptwerk De Republica Ecclesiastica des kroatischen Bischofs und Universalgelehrten Markantun de Dominis.
Der Satz spielte seither bei vielen Menschen, kirchlichen Bewegungen und theologischen Schulen eine Rolle, die an der Heilung der Kirchenspaltungen arbeiteten: Bei den Irenikern (übersetzt etwa: die Friedliebenden) des 17. Jahrhunderts, welche die Feindseligkeiten zwischen dem westlichen Katholizismus und den Reformationskirchen überwinden wollten; bei den frühen Christ- und Altkatholiken, welche bereits 1874 und 1875 Unionskonferenzen durchführten, um nach der Spaltung der westlichen katholischen Kirche die Nähe zu den anglikanischen und östlich-orthodoxen Kirchen zu suchen; und in der modernen ökumenischen Bewegung.
Einheit der Kirche soll Einheit im Wesentlichen sein: Dieser Gedanke hat sich in der Ökumene weitgehend durchgesetzt. In nachgeordneten Fragen kann es auch abweichende Meinungen und theologischen Dissens geben. Dies stellt die kirchliche Gemeinschaft nicht in Frage. Keine Kirche, nicht einmal eine kleine Kirche wie die christkatholische, ist so homogen, dass alle bis ins letzte Detail genau die gleiche Meinung vertreten. Die christkatholische Kirche hat dies unter anderem 1931 im «Bonner Abkommen» mit den anglikanischen Kirchen zum Ausdruck gebracht.
Die Einheit, die heute in der Ökumene gesucht wird, ist «Einheit in der Vielfalt». Fast keine ernstzunehmende Persönlichkeit oder Kirche in der ökumenischen Bewegung fordert Uniformität der Kirchen. Auch die römisch-katholische Kirche, welche noch weit ins 20. Jahrhundert hinein eine «Rückkehr-Ökumene» vertrat, bei der die anderen Kirchen in den Schoss der Mutterkirche zurückkehren und selbstverständlich alle römisch-kathoilschen Glaubenslehren übernehmen, sieht dies seit 1964 anders: Damals hat das Zweite Vatikanische Konzil festgehalten, dass es eine «Hierarchie der Wahrheiten» gebe, das heisst, dass nicht alle Glaubenslehren gleich zentral für die Einheit der Kirchen sind. Diese Konzilsaussage wurde von Theologinnen und Theologen anderer Kirchen, auch der christkatholischen, sehr geschätzt.
Die Vielfalt betrifft nicht nur die kirchliche Praxis, sondern auch den Glauben. Die römisch-katholischen Mariendogmen von 1854 und 1950 wurden von der christkatholischen Kirche vehement abgelehnt: Im Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens und ihrer leiblichen Himmelfahrt sahen sie ein Marienverständnis, das theologische Aussagen auf Maria überträgt, die Christus vorbehalten sein sollen. Die neuere Diskussion der Christkatholisch-Römisch-katholischen Gesprächskommision hat aber gezeigt, dass dieser Unterschied im Glauben ein nachgeordneter ist, welcher das ökumenische Miteinander nicht in Frage stellt.
Deswegen führt auch das «Verfahren zur Stellungnahme in Glaubensfragen», welches die Verfassung der Christkatholischen Kirche der Schweiz in Art. 22 beschreibt, nicht zu einer Kirchenspaltung. Auch in Glaubensfragen kann es Meinungsvielfalt geben. Nur wenn zentrale Fragen des Glaubens betroffen sind, wenn das Wesentliche des Glaubens in Frage steht, wird es schwierig, in einer Glaubensgemeinschaft zusammen zu bleiben. Zentrale Fragen des Glaubens gibt es nach christkatholischer Auffassung nur wenige, sie sind im Nicänokonstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis zusammengefasst.