Unsere Vision: Antwort auf Hans Gernys Hirtenbrief von 1994

Lieber Bischof Hans Gerny

1994 haben Sie einen Hirtenbrief verfasst, in dem Sie uns Ihre Vision der Kirche schildern. Sie beziehen sich dabei auf die Worte von Paulus im 1 Korintherbrief 12:12-28, wo die Kirche mit dem Leib Christi verglichen wird. Es heisst dort, alle getauften Menschen seien Glieder dieses einen Leibes Christi. Wir alle sind ein Teil der Kirche. Die Kirche ist keine von mir unabhängige Institution. Daraus folgern Sie: ohne mich ist die Kirche unvollständig. Das gilt auch für meine Glaubensgeschwister. Es braucht uns alle um Kirche zu sein und niemand ist ersetzbar. Wenn sich jemand zurückzieht, bleibt eine Lücke und es fehlt ein Teil, ein Glied. Das bedeutet, dass alle Menschen in der Kirche, egal welche Rolle oder Funktion sie haben, wichtig sind. Ihre Vision der Kirche gefällt mir sehr gut!

Sie schreiben aber auch einen Satz, mit dem ich Mühe habe. Er lautet: «Ich denke, dass es keine andere Religion gibt [als das Christentum], für die jeder einzelne Mensch so unentbehrlich ist.» Mit diesem einen Satz setzen Sie das Christentum in Beziehung zu anderen Religionen. Sie fügen dem hinzu: «Dass ein solcher Gedanke Folgen hat, liegt auf der Hand.».

Dieser Satz setzt ein gewisses Verständnis von Religion voraus, nämlich, dass Religionen als Glaubenssysteme miteinander verglichen werden können. Dabei wird die eigene Religion, das Christentum als das ideale Modell verstanden, an dem sich andere Religionen messen müssen. Religionen, die diese Norm nicht erfüllen – und das tut keine Religion – werden als minderwertig und defizitär herabgestuft. Dass andere Religionen «anders» sind, wird dabei nicht berücksichtigt.

Um Aussagen über andere Religionen machen zu können, müssen wir einerseits mit Vergleichen vorsichtig umgehen und andererseits unsere Haltung gegenüber anderen Religionen prüfen. Vor allem aber müssen wir andere Religionen zuerst kennenlernen, bevor wir uns über sie äussern. Dazu braucht es die Bereitschaft zu lernen und zur Wertschätzung gegenüber diesen Religionen. Erst dann können wir nach sinnvollen Vergleichspunkten suchen. Dabei sollten wir uns auch vor Augen halten, dass wir beim Vergleichen nicht nur auf Ähnlichkeiten, sondern ebenso auf Unterschiede achten sollten. Wir lernen dadurch nicht nur etwas über anderen Religionen, sondern auch etwas darüber, was uns an unserer Religion wichtig ist.

Das christliche Verständnis von Kirchesein in anderen Religionen zu suchen, macht wenig Sinn, wir können aber danach fragen, welche Bedeutung «Glaube in der Gemeinschaft» für andere Religionen hat. Hier können wir einiges vom christlich-muslimischen Dialog lernen.

Uns eint die Auffassung, dass die Glaubensgemeinschaft keinen Selbstzweck hat, sondern dafür da ist, Gott zu dienen. Sowohl im Christentum, wie auch im Islam bekennen sich die Gläubigen nicht nur zu Gott, sondern auch zu ihrer Gemeinschaft, gleichzeitig wächst der Glaube in der Gemeinschaft.

Die Form der Gemeinschaft unterscheidet sich in Christentum und Islam, so dass wir von «Kirche» und «Umma» sprechen. Die Vorstellungen und die theologische Bedeutung von Kirche und Umma sind allerdings sehr unterschiedlich.

Dass im Islam das Gemeinschaftsverständnis keine sakramentale Dimension hat, ist kein Defizit. Es ist einfach ein anderes Verständnis von Gemeinschaft, als wir es im Christentum kennen. Daraus zu schliessen, dass im Islam Menschen entbehrlicher sind als im Christentum, ist erstens falsch und zweitens herabwürdigend.

Lieber Bischof Hans, mit diesem einen Satz bringen Sie eine so wunderbare Vision der Kirche ins Wanken. Ich hätte mir von Ihnen einen reflektierteren und demütigeren Umgang mit anderen Religionen gewünscht. Nur wenn sich Religionen im Dialog und auf Augenhöhe begegnen, können sie voneinander lernen und sich gegenseitig bereichern.

Herzliche Grüsse

Miriam Schneider