In seinem ersten Hirtenbrief als Bischof thematisiert Harald Rein die Fragen: Wohin geht unsere Kirche? Wohin führt uns Gott? Was ist unser spezieller Auftrag heute? Für ihn ist die Konzentration auf den wesentlichen Auftrag der Kirche in der heutigen Zeit zentral: Weitergabe des Glaubens und Ökumene.
Person
Harald Rein
Amt
Bischof von 2009 bis 2023
Siegelwort
«Nicht Menschenlob, nicht Menschenfurcht.» C. A. von Galen
Lebensdaten
* 01.10.1957 in Bochum
Hinweis zum Bild
Bischof Harald Rein erläutert seinen ersten Hirtenbrief an der 142. Session der Nationalsynode der Christkatholischen Kirche der Schweiz 2010 in Neuchâtel.
An die christkatholischen Kirchgemeinden
und an die Christkatholikinnen und Christkatholiken in der Diaspora
Quo vadis?
„Lass uns unsere Ruhe, wir wollen Ägypten dienen, denn es ist besser für uns, Ägypten zu dienen, als in der Wüste zu sterben.“ (Exodus 14,12)
„Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“ (Philipper 2,13)
Liebe Schwestern und Brüder,
EINLEITUNG
Es gehört zu unserem Kirchenverständnis, dass es nicht „die da oben“ gibt und „die da unten“, sondern nur die Kirche als Gemeinschaft, als das wandernde Volk Gottes durch die Zeit. In diesem Sinne ist Kirche primär nicht als Institution zu verstehen, die über die Wahrheit verfügt, sondern als Gemeinschaft von suchenden Menschen, die dem Evangelium Jesu Christi zu neuer Glaubwürdigkeit und zu neuem Gewicht verhelfen möchte. Der Mythos des wandernden Gottesvolkes ist dabei unser gemeinsamer Traum.
Mose führte die Israeliten aus Ägypten durch die Wüste ins gelobte Land. Aber mit Aufbrüchen ist das so eine Sache: der Pharao wollte die Israeliten nicht ziehen lassen, viele wollten aus Angst nicht mitkommen, anderen ging es nicht schnell genug und Mose hätte ohne Gottes Hilfe und ohne das Murren des Volkes dieses oft in die falsche Richtung geführt.
Der Pharao bzw. die Plagen stehen in dieser biblischen Geschichte für den Widerstand, den die bisherige Ordnung leistet, um alles beim Alten zu lassen. Nur nichts verändern. Die Aufbrechenden möchten eigentlich bei den Fleischtöpfen in Ägypten bleiben. Lieber Sklave bleiben, als eventuell frei in der Wüste verdursten. Ich stelle in unserer Kirche neben Resignation und Aufbruchstimmung auch solche Widerstände und Ängste fest. Bis zu einem gewissen Sinne sind wir Gefangene unseres eigenen Systems. Denn im Grunde genommen wollen wir zwar an Mitgliedern gerne zunehmen, uns aber nicht verändern. Unter dem Motto: „Wir machen keine Mission, weil wir eine gut bürgerliche Landeskirche sind. Und eigentlich müssten die römisch-katholischen Glaubensgeschwister von selbst kommen, wenn sie unsere Broschüren lesen, insbesondere wegen der Unfehlbarkeit und dem Jurisdiktionsprimat des Papstes und der Frauenordination.
In diese geschichtliche Situation haben Sie mich mit der Hilfe des Heiligen Geistes zum Bischof gewählt. Zwar nicht Mose und auch nur ein Mensch; aber zum Aufbruch entschlossen.
Quo vadis ist eine lateinische Redewendung mit der Bedeutung „Wohin gehst du?“. Nach einer alten Legende begegnete der Apostel Petrus auf seiner Flucht aus Rom Christus und fragte ihn „Quo vadis, Domine? (Wohin, gehst du, Herr?) und erhielt zur Antwort „Ich gehe nach Rom, um mich noch einmal kreuzigen zulassen“. Daraufhin kehrte Petrus um, wurde in Rom gefangen genommen und gekreuzigt. Petrus war vor seiner Pflicht geflohen und Jesus holte ihn in die Pflicht zurück. An der Via Appia in Rom steht heute die Kirche „Domine, Quo Vadis“, wo die legendäre Gegebenheit stattgefunden haben soll. Von dort stammt auch das Foto, das ich bei einem Romaufenthalt gemacht habe.
Ich möchte diese lateinische Redewendung – auf die Situation der Christkatholischen Kirche der Schweiz bezogen – so deuten: Wohin geht unsere Kirche? Wohin führt uns Gott? Was ist unser spezieller Auftrag heute?
Diese Themenstellung in meinem ersten Hirtenbrief ergibt sich aus dem Umstand, dass ich direkt mit Amtsantritt starke Emotionen bei vielen unseren Kirchenmitglieder ausgelöst habe hinsichtlich der Idee einer „Annäherung an die römisch-katholische Kirche“ und der Forderung nach „Wachstum auf 20’000 Mitglieder“. Diese Emotionen zeigen mir, wie wichtig und zugleich heikel diese Themen sind. Daher auch der biblische Bezug zum Auszug der Israeliten aus Ägypten.
Heutige Situation
Als unsere Kirche 1874 bzw. 1876 entstand, räumte uns die römisch-katholische Kirche bekanntlich nicht einmal die Zeitspanne einer einzigen Generation zum Überleben ein. Uns gibt es immer noch. Gott braucht uns, obwohl uns augenscheinlich im Hinblick auf die Mitgliederzahlen so langsam der Schnauf auszugehen scheint. Wir alle sind vom Anliegen unserer Kirche überzeugt. Trotzdem ist die Lage unserer Kirche – wie der meisten in Westeuropa – sehr schwierig geworden. Für viele Laien und Geistliche ist es frustrierend, wenn man im Alltag fast ständig mit Kleinheit und Rückgang und zunehmenden finanziellen Problemen konfrontiert ist. Wir müssen vermehrt unseren Mythos und unsere Identität formulieren und zugleich die Hauptaufgabe einer jeden Kirche wahrnehmen: Den Glauben weitergeben. In den letzten Jahrzehnten ist in unserer Gesellschaft viel über das Burn-out-Syndrom diskutiert worden. Man kann beobachten, dass nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Organisationen davon betroffen sein können. Die „erschöpfte Organisation“ versucht das Bestehende um jeden Preis zu sichern und beginnt sich immer mehr auf sich selbst zu beziehen. Das äussert sich etwa in Kompetenz- und Zuständigkeitsproblemen sowie einer gestörten Kommunikation. Wir müssen uns wieder entspannt und selbstbewusst auf unsere eigentliche Aufgabe konzentrieren: Ökumene und Weitergabe des Glaubens (Wachstum). Wobei ich hier unter Ökumene nicht die „Alltagsökumene“ in unseren Gemeinden mit allen benachbarten Konfessionen – auch wenn diese genauso wichtig ist – verstehe, sondern den Grundauftrag unserer altkatholischen Bewegung: Kirchenspaltungen zwischen katholischen Kirchengemeinschaften zu überwinden.
ÖKUMENE bzw. UNSER GRUNDAUFTRAG
Der Mythos, unser Traum
Unser Antrittsgesetz, unser Credo ist: Wie in der alten Kirche, so wie sie etwa bis 1000 n. Chr. existiert hat, soll Christus in allem das Haupt, die Mitte und das Fundament unserer im Glauben und im Gottesdienst katholisch ausgerichteten Kirche sein. Daher ist ihr Name auch altkatholisch bzw. christkatholisch. So werden in unserer Kirche alle wichtigen Entscheidungen – wenn möglich – im Konsens getroffen (Einstimmigkeit der Tendenz nach – nicht absolut). Jede und jeder können mitbestimmen und mitreden. Der Bischof ist dabei – von wenigen Ausnahmen abgesehen (dort Hüter) – Moderator.
Wenn ich nach der Stärke und der Schwäche der christkatholischen Kirche gefragt werde, antworte ich auf beides: Unsere Kleinheit. Wir können sozusagen in unserer Kleinheit positiv vorleben, was es heisst überschaubare katholische Ortskirche zu sein bzw. ein bischöflich-synodales System zu haben. Aber gerade in dieser Kleinheit liegt auch die Gefahr, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen von einer Dorfmentalität im negativen Sinne geprägt sein können und damit die Kirche lähmen und in unnötige Konflikte verwickeln. Gerade auch, wenn es um Zukunfts- und Personalfragen geht.
Die Identität und unsere ökumenischen Beziehungen
Jeder Mythos steht nicht zeitlos in Raum und Zeit, sondern wird durch die jeweilige Identität konkret umgesetzt. In diesem Sinne hat unsere Kirche eine Geschichte. Als sie im Kontext des Ersten Vatikanischen Konzils nach 1870 aus Gewissensgründen gezwungen war, sich zu organisieren, verstanden wir uns als „Notkirche“ bzw. als die Fortsetzung der katholischen Kirche des Abendlandes, die im Gegensatz zur Mehrheit nicht „römisch(-katholisch)“ geworden war (Unfehlbarkeit und Jurisdiktionsprimat des Papstes). Dieser Anspruch liess sich zahlenmässig und von der gesellschaftlichen Bedeutung her nicht aufrecht erhalten. So positionierten wir uns 1889 durch die Gründung der Utrechter Union mit anderen unabhängigen katholischen Kirchen neu und wurden zur altkatholischen Kirchenfamilie und suchten die Nähe zu den Anglikanern und Orthodoxen, in denen wir den eigenen altkirchlichen Mythos „katholisch ohne Rom“ wieder erkannten. So konnte sich die altkatholische Bewegung fast 50 Jahre lang als ökumenische Pionierin etablieren und bekam eine Bedeutung weit über ihre zahlenmässige Grösse hinaus. Bereits 1931 kam es zu einer Kirchengemeinschaft mit den Anglikanern und 1987 wurde dieses Resultat auch mit den Orthodoxen auf Kommissionsebene erreicht. Dennoch nahm die ökumenische Bedeutung der altkatholischen Kirchen ab, da die Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen von 1948 neuere und bessere Foren für zwischenkirchliche Beziehungen schuf.
Denn unser „Gegnerin“ heute ist nicht mehr die römisch-katholische Schwesterkirche, sondern die Welt und der Unglaube.
Eine weitere Veränderung in unserer Identität wurde von Aussen an uns herangetragen. Das Zweite Vatikanische Konzil 1962 bis 1965 weckte auf beiden Seiten grosse Hoffnungen und plötzlich galt unsere kleine abtrünnige Schwesterkirche als die „Vorhut“ der (römisch-)katholischen Kirche. Eine Wiedervereinigung schien greifbar. Leider erwies sich diese Euphorie schon bald als Fehleinschätzung. Dennoch kam es nach einer langen Vorgeschichte zu einem römisch-katholisch – altkatholischen Dialog auf Weltebene, der im Sommer 2009 erfolgreich abgeschlossen wurde. Die auf Kommissionsebene vorgeschlagene Kirchengemeinschaft beinhaltet mit meinen Worten ausgedrückt: Die römisch-katholische Kirche und die altkatholischen Kirchen erkennen sich als katholische Schwesterkirchen voll an (Kirchengemeinschaft) und regeln ihre vielfältigen Beziehungen (wie z.B. Übertritte) geschwisterlich und im gegenseitigen Vertrauen. Ein Zusammenschluss – d. h. eine Union – ist zurzeit aus verschiedenen Gründen nicht möglich, insbesondere wegen der bei uns schon eingeführten Frauenordination, dem Recht der Bischofswahl durch das Volk und den umstrittenen Papstdogmen. Wie eine solche Kirchengemeinschaft praktisch und institutionell gelebt werden kann, wird Gegenstand weitere Gespräche sein. Ich kann verstehen, dass dies bei vielen unserer Kirchenmitglieder Ängste und Misstrauen weckt; aber in der römisch-katholischen Kirche ist es meiner Wahrnehmung nach ähnlich. Aber wir sind von unserem Antrittsgesetz und unserer Geschichte her verpflichtet, das ernsthaft zu prüfen und zu versuchen. Denn unser „Gegnerin“ heute ist nicht mehr die römisch-katholische Schwesterkirche, sondern die Welt und der Unglaube. Dort liegt unsere Wachstumsmöglichkeit. Das schliesst natürlich nicht aus, dass auch Mitchristinnen und Mitchristen aus anderen Kirchen freiwillig aus innerer Überzeugung zu uns „überwechseln“. Aber das liegt auf einer anderen Ebene, die es in ökumenischer Geschwisterlichkeit zu regeln gilt. Daher möchte ich die bestehende Kirchengemeinschaft mit den Anglikanern in der Praxis intensivieren und die mit den orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche auf Kommissionsebene erreichte Kirchengemeinschaft offiziell institutionalisieren. Das gehört alles zu unserer altkirchlichen Programmatik. Wir können stolz sein auf unsere Variante von katholischer Kirche und sie als Bereicherung der Ökumene sehen, bis die wirkliche Einheit der Kirche Gottes nicht nur geistig, sondern auch institutionell wieder hergestellt ist: nämlich die Kirche als eine Gemeinschaft von Ortskirchen, die sich gegenseitig voll anerkennen und sich über ihre Bischöfe austauschen.
DIE WEITERGABE DES GLAUBENS (WACHSTUM)
Auch wenn das Suchen nach kirchlicher Einheit zum besonderen Wesenauftrag unserer Kirche gehört, darf sie sich nicht nur um sich selbst, um ihr Verhältnis zu Rom und die Ökumene drehen. Denn der grundsätzliche Charakter der Kirche ist in Liturgie, Verkündigung und Nächstenliebe zu bekunden: das Reich Gottes ist nahe. Den Tod des Herrn verkünden wir, bis er wiederkommt in Herrlichkeit. Die Botschaft der Bibel gilt allen Menschen und das Evangelium ist universal: „Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.“ (Matthäus 28,19+20). Zu Beginn des Christentums war Kirchengeschichte Missionsgeschichte. Das Christentum breitete sich durch die Mission der Apostel – insbesondere des Paulus und seiner Schüler – um das Mittelmeer herum aus und beruhte auf Freiwilligkeit und innerer Überzeugung. Es ging um die individuelle Bekehrung von Nichtchristen, die sich als Erwachsene zum Christsein bekannten und sich taufen liessen. Mit der „konstantinischen Wende“, durch die das Christentum Staatsreligion wurde, begann eine andere Entwicklung mit Vor- und Nachteilen. Ganze Völker wurden christianisiert und die Kindertaufe eingeführt. In Folge dessen kannte schon das ausgehende Mittelalter das Phänomen, das als Kinder getaufte Christinnen und Christen als Erwachsene ihren Glauben nicht praktizierten oder über ihn nicht Bescheid wussten. So trat nach der Reformation neben den Begriff der Mission die „innere Mission“. Innere Mission meinte die Wiedererweckung des Glaubens unter Christen. Was eigentlich ein Paradox ist. Hinzu kam später das schlechte Image des Begriffes Mission allgemein; bedingt durch die Zwangsmissionierung aussereuropäischer Völker im Kontext der Kolonialisierung. So ist der Begriff Mission bis heute negativ behaftet, auch wenn man versucht hat ihn durch andere Wörter, wie z.B. Evangelisation, Neuevangelisierung und Gemeindeaufbau, zu ersetzen. Das alles ändert aber nichts daran, dass Verkündigung und Mission als die „Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation“ verstanden, zum Kernauftrag einer jeden Kirche gehört. Eine Kirche, die in diesem Sinne nicht nach Innen und Aussen missionarisch ist, hört auf, Kirche zu sein. Es stellt sich nur die Frage nach dem „Wie“?
Die heutige Situation
Obwohl die Nachfrage nach religiösem Angebot in der postmodernen Gesellschaft Europas keineswegs abgenommen hat, befinden sich die meisten historischen und etablierten Volks- Landes- und Freikirchen auf der Verliererstrasse. Mit dem traditionellen Angebot von Gottesdiensten, Seelsorge, Religionsunterricht, Vereinen und Hausbesuchen wird nur die Kerngemeinde erreicht. Aber auch neue Konzepte, die die distanzierten Kirchenmitglieder und die Ausgetretenen in ihrem Alltag zu erreichen versuchen, greifen im Sinne eines grösseren Erfolges nicht. Die Hauptgründe für diese ganze Entwicklung sind, dass es heute nicht mehr den Einheitschristen, die Einheitschristin gibt, sondern dass der Glaube – unabhängig von der meistens zufällig biografisch bedingten Konfessionszugehörigkeit – viele Gesichter hat. Religion gilt als eine rein persönlich und individuell ausgerichtete Angelegenheit und verläuft – als religiöse Orientierungssuche verstanden – nach Patchwork-Mustern. Die Kirchen sind nur noch Anbieter neben vielen anderen. Aber gerade darin kann für die Kirchen eine grosse Chance liegen. Ähnlich wie im römischen Reich zurzeit der alten Kirche ist die Kirche wieder als Minderheit gefordert, sich auf das Eigentliche ihrer Botschaft und deren Weitergabe zu konzentrieren.
Was bedeutet das für die christkatholische Kirche heute?
Die Zugehörigkeit zu einer Kirchgemeinde oder Kirche wird in Zukunft primär von persönlichen Bedürfnissen bestimmt und nicht von konfessionell-ideologischen Faktoren („Wir haben keinen Papst. Wir glauben nicht an die Unfehlbarkeit. Wir haben kein Zölibat“). Das Nachwuchschristentum wird ergänzt und verstärkt durch ein Wahlchristentum. Die Zukunft einer Kirche wird abhängen von ihrer Mitgliederstärke, deren Mobilisierung (Identifikation, Einbindung und Gruppen als Zellen), ihrer Finanzkraft, ihrer sozialen Tätigkeit (sofern sie erkennbar ist als „Zeugnis des Glaubens“) und vor allem ihrer „spirituellen Lebendigkeit“. In ihrem Zentrum müsste Toleranz, Verständnis, Diskussions- und Dialogbereitschaft und vor allem eine zeitgemässe Glaubensvermittlung mit aktuellem Profil und spürbarer Spiritualität stehen. Die altkatholischen Gemeinden werden nur dann – wie alle anderen Gemeinden auch – eine Zukunft haben, wenn es ihnen gelingt, Mission in einer Art und Weise zu verwirklichen, die einerseits ihrer Vision von Kirche und andererseits ihren Möglichkeiten entsprechen. Das Problem in Europa ist nicht, dass es zu wenig Christen / Christinnen hat, sondern der Skandal ist, dass die meisten Getauften niemals Zugang zu einer christlichen Gemeinde finden.
Wie wird der Glaube weitergegeben?
Um beim Besuch einer Kirchgemeinde im Gottesdienst berührt zu werden, muss man erst einmal dorthin finden. Wie finden Interessierte den Weg? Nicht durch die Kirchgemeinde als Ganzes, sondern durch einzelne Gemeindemitglieder. Es lässt sich nachweisen, dass die meisten Menschen über den so genannten „Oikos-Faktor“ (Das „Haus des Herrn“ wird durch natürliche Lebensbeziehungen gebaut) zum Mitmachen in einer Kirchgemeinde gekommen sind. Denn es ist ein grosser Unterschied, ob man das Evangelium von einem Freund bezeugt bekommt oder als religiöse Darbietung eines völlig fremden Menschen. Eine engagierte Christin spricht z.B. ihre Nachbarn, Arbeitskollegen, Verwandten auf Gott, Kirche usw. an und lädt sie in ihre Gemeinde ein. Das geschieht aber immer im Respekt. Man spricht nur die an, von denen man das Gefühl hat, sie würden das vielleicht schätzen und drängt nicht weiter, wenn sie ablehnen. Auf die altkatholische Kirche übertragen, könnte das bedeuten: Wenn jedes Mitglied in seinem ganzen Leben nur ein neues Mitglied für seine Kirche „gewinnt“, wäre zumindest der Bestand seiner Gemeinde gesichert. Freude am Glauben heisst auch, sich zu seiner kirchlichen Heimat selbstverständlich und unverkrampft zu bekennen. In volkskirchlichen Kreisen wird die Bedeutung des Oikos-Faktors generell unterschätzt, obwohl ihm eine grössere Wirksamkeit zukommt als Grossveranstaltungen und Werbung: Einer sagt es dem anderen. Genauso wichtig ist es aber, dass der so motivierte Gast dann auch eine zahlreiche Gemeinde vorfindet, die unsere wundervolle Liturgie feiert. Daher sollten sich alle aktiven Mitglieder freiwillig so verpflichten und absprechen, dass dies an den meisten Sonntagen gewährleistet ist. Die gegenwärtige gesellschaftliche Veränderung fördert Kleinkirchen. Unsere Chancen sind gut.
GEGENSEITIGES VERTRAUEN
Zwar hatten viele Israeliten Vorbehalte und Angst ins Unbekannte aufzubrechen, aber zugleich geschah der Aufbruch dann doch, weil die Zeit reif war. Und in diesem Sinne stelle ich viel Hoffnungsvolles fest. Ich denke da z.B. an die „Sternschnuppen“ in Basel, Genf, Solothurn, Zürich und demnächst auch in Bern, an die „Offenbar“ in Basel, die Regionalisierungen im Fricktal und im Grossraum Olten, die gute Zusammenarbeit der französischsprachigen Kirchgemeinden im Comité Romand, die bessere Betreuung im Tessin, die bevorstehende Renovation des Studentenheimes in Bern, die Neukonzeption unserer Medien und der Diasporagebiete, das zahlenmässige Wachstum in den Stadtgemeinden usw. Lassen Sie uns aufbrechen im gegenseitigen Vertrauen und im Glauben an den Herrn der Kirche, Jesus Christus.
„Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“ (Philipper 2,13)
Bern, in der Fastenzeit 2010
Bischof Dr. Harald Rein