Kirchliche Erwachsenenbildung

Ein zentrales Anliegen in seinem Hirtenbrief ist für Bischof Urs Küry, dass das Lernen zum menschlichen Dasein gehört. Für ihn muss die kirchliche Erwachsenenschulung das ganze Leben hindurch fortgesetzt werden für die Weiterentwicklung des persönlichen Glaubensverständnisses. In seinen Beobachtungen stellt er fest, dass der körperlich erwachsene Mensch nicht zwingend auch ein geistig Erwachsener ist. Doch gerade in einer bischöflich-synodalen Kirche ist dies von Bedeutung. Der Mensch kann nur im immer neu ansetzenden Nachdenken über Gott und das Leben und im gemeinsamen Nachdenken mit anderen zusammen ein verstehendes Erkennen erringen.

Bischof em. Urs Küry zusammen mit Erzbischof em. von Utrecht Andreas Rinkel
(Quelle: Bischof Urs Küry. Hirtenbriefe. Allschwil 1978)

Person
Urs Küry

Amt
Bischof von 1955 bis 1972

Siegelwort
«Lasset uns die Wahrheit bekennen in Liebe.» Eph 4,15

Lebensdaten
* 06.05.1901 in Luzern
† 03.11.1976 in Basel

Quellen | Literatur
Urs Küry. Hirtenbriefe. Mit einem Lebensbild von Bischof Dr. Urs Küry verfasst von Pfr. Dr. Hans A. Frei. Allschwil 1978.

Hinweis zum Bild

Eines der letzten Bilder von Bischof em. Urs Küry im Gespräch mit seinem Freund Andreas Rinkel, Erzbischof em. von Utrecht von 1976.

Hirtenbrief von 1969

„Jesus Christus gestern, heute und derselbe in Ewigkeit. Lasst euch nicht von mancherlei fremden Lehren umtreiben; denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.“ Hebr 13,8-9a

Über die Notwendigkeit einer gründlichen kirchlichen Erwachsenenschulung kann kein Zweifel bestehen Alle Glieder der Kirche brauchen Hilfe, Aufklärung, Weisung, um in der modernen Welt als Christen bestehen und ihre Berufung erfüllen zu können. Und dies umso mehr, als alles im Wandel begriffen ist: was gestern noch galt, ist heute überholt. Massstäbe und Normen, die als unantastbar betrachtet wurden, zerbrechen und werden durch andere ersetzt. Der Mensch findet in dieser Lage zu den Dingen, die ihn umgeben, und zu den Ereignissen, die auf ihn eindringen, keine echte, dauernde Beziehung mehr. Er vermag kaum mehr, dem Geschehen unserer Zeit einen tieferen Sinn abzugewinnen, es in einen übergreifenden Zusammenhang einzuordnen oder es gar in seiner Gottgewolltheit zu erkennen. Sobald er aus dem engeren Bereich eines persönlichen Glaubens hinausblickt in die Welt, droht ihm Gott verlorenzugehen, und er kommt in Gefahr, dem Kurzschluss der Toren zu verfallen, die da sprechen: Gott ist tot. Der Mensch ist geistig-religiös heimatlos geworden.

Die Zeiten sind darum endgültig vorüber, da die Kirche sich damit begnügen konnte, die Kinder im christlichen Glauben zu erziehen um sie dann als Erwachsene in die Geborgenheit einer Welt zu entlassen, die noch von christlichen Grundüberzeugungen, Sitten und Gebräuchen geprägt war.

Die Zeiten sind darum endgültig vorüber, da die Kirche sich damit begnügen konnte, die Kinder im christlichen Glauben zu erziehen um sie dann als Erwachsene in die Geborgenheit einer Welt zu entlassen, die noch von christlichen Grundüberzeugungen, Sitten und Gebräuchen geprägt war. Die christliche Umwelt von damals existiert nicht mehr; die Welt ist in geistlicher Beziehung „wüst und leer“ geworden. Infolgedessen muss die Kirche, wenn sie nicht noch mehr an Terrain verlieren will, heute nicht nur die Schulentlassenen, sondern die Erwachsenen insgesamt mit ihrem Wort hinausgeleiten in die Welt. Es muss mit der Vorstellung gründlich aufgeräumt werden, dass es mit dem Religionsunterricht an den Kindern getan sei und die Erwachsenen nicht mehr der christlichen Unterweisung und der Einübung in den christlichen Glauben bedürften. Zwar darf der Einfluss nicht unterschätzt werden, den der Religionsunterricht, welchen die Kinder empfangen, auf einen grossen Teil der Erwachsenen – wenn oft auch ganz unbewusst – ausübt und ihr alltägliches Leben bestimmt. Immer wieder ist man erstaunt und erfreut darüber, wie richtig, tief und persönlich engagiert unkirchlich Gewordene sich über religiöse Fragen äussern können, wenn man mit ihnen ins Gespräch kommt. Aber andererseits unwissend, naiv und hilflos und manchmal auch wie verbohrt selbst kirchlich Aktive den letzten Fragen des Lebens gegenüberstehen. Gerade unter den sogenannten Gebildeten, Akademikern etwa, trifft man nicht selten Menschen an, die in religiös-kirchlichen Fragen auf der Stufe von Sekundarschülern oder gar bei Vorstellungen der frühesten Kindheit stehengeblieben sind. Ein solcher Zustand kann nicht weiter andauern, soll nicht die Kirche und die christliche Sache selbst schwersten Schaden leiden. Die körperlich Erwachsenen müssen auch geistig Erwachsene werden. Sie dürfen, um mit dem Apostel zu reden, „nicht Unmündige bleiben, sondern sollen heranwachsen zur Reife des Mannesalters, zum vollen Mass der Fülle Christi“ (Eph 4,13-14). Das aber kann in unseren Verhältnissen nur geschehen durch eine Erwachsenenschulung, die nach Abschluss des Religionsunterrichtes durch das ganze Leben hindurch fortgesetzt wird. Die kirchliche Erwachsenenschulung muss zu einem lebenswährenden Vorgang werden, an dem Laien und Geistliche, denen die Kirche am Herzen liegt, sich beteiligen müssen.

Die kirchliche Erwachsenenschulung muss zu einem lebenswährenden Vorgang werden, an dem Laien und Geistliche, denen die Kirche am Herzen liegt, sich beteiligen müssen.

Wenn in einer Sache, so müssen wir in der Sache Christi immer neu lernen; wir müssen uns, herausgefordert zur Auseinandersetzung mit den inneren und äusseren Problemen, die die Kirche bedrängen, im Kampfe des Glaubens recht eigentlich üben. Anders geht es nicht mehr. Es war die Stärke der alten Kirche, auf die wir uns so gerne berufen, dass sie ihre erwachsenen Glieder im Taufunterricht zu eigentlichen Milizsoldaten Christi heranbildete, die im Kampf mit den Mächten des damaligen Heidentums und des Aberglaubens sich tapfer behaupteten. In einer ähnlichen Situation befinden wir uns heute dem immer weiter um sich greifenden Neuheidentum und den Mächten einer entchristlichten Welt gegenüber. Den durch sie uns auferlegten Kampf können wir nur bestehen, wenn wir die Waffen des Geistes, die uns gegeben sind (Eph 6,10ff.), ergreifen und sie auch zu führen vermögen. Das aber ist nur möglich, wenn wir – um im Bilde zu bleiben – immer wieder exerzieren, periodisch Wiederholungskurse bestehen und uns zum Kampfe des Geistes zurüsten lassen eben durch das Mittel kirchlicher Erwachsenenschulung.

Unsere volkskirchliche Situation, das heisst: unsere durch die Geschichte bestimmte Lage, in der die Menschen in der Regel in eine der bestehenden Landeskirchen hineingeboren werden, ob sie wollen oder nicht, und in ihr bleiben, ob sie nach Abschluss des Religionsunterrichtes in ihr mitarbeiten wollen oder nicht, bringt es mit sich, dass nicht – wie in der alten Kirche – das ganze Kirchenvolk zur Militia Christi wird, sondern immer nur eine Minderheit solcher, die sich bewusst auf den Boden des geistlichen Glaubens stellen und ein christliches Leben führen wollen. Und diese wenigen, die aus innerer Überzeugung der Kirche angehören und für sie kämpfen und arbeiten wollen, haben das Vorrecht und zugleich die Pflicht, im Glauben und im christlichen Wandel geschult zu werden, damit sie – stellvertretend für die anderen – der Sache Christi in der heutigen Welt umso wirksamer zu dienen vermögen.

Unsere volkskirchliche Situation bringt es mit sich, dass nicht das ganze Kirchenvolk zur Militia Christi wird, sondern immer nur eine Minderheit solcher, die sich bewusst auf den Boden des geistlichen Glaubens stellen und ein christliches Leben führen wollen.

Um welches Ziel es in diesem Kampf gehen muss, das sagt unser Textwort. Es geht darum, dass wir uns nicht durch mancherlei fremde Lehren, die vom Neuheidentum her in unsere Herzen und Gedanken eindringen wollen, umtreiben und unsicher machen lassen, sondern dass unser Herz fest wird, welches geschieht durch Gnade, damit Jesus Christus in seiner überirdischen Herrschafts- und Liebesmacht unser ganzes Leben, Denken und Tun bestimmt, der im Wandel der Zeiten stets der unverwechselbar eine und einzige bleibt: „Jesus Christus, gestern, heute und derselbe in Ewigkeit.

Wie aber muss die kirchliche Erwachsenenschulung gestaltet werden, damit sie dieses Ziel erreicht?

Wir reden bewusst von kirchlicher Erwachsenenschulung und nicht von Erwachsenenbildung. Das klingt uns vielleicht sehr unangenehm in die Ohren. Denn das Wort „Schulung“ weckt allerlei unliebsame Vorstellungen in uns. Zwar ist die Schule – darin sind wir alle einig – eine der für unsere heutige Zeit wichtigsten menschlichen Einrichtungen. Ohne Schule und Schulung gibt es für den einzelnen keine Möglichkeit, selbständig den Weg durchs Leben zu gehen, sich im erwählten Berufe zu bewähren und vorwärts zu kommen, eine eigene Familie zu erhalten und dem Volksganzen als nützliches Glied zu dienen. Noch mehr: In unserem Zeitalter wäre es gar nicht möglich, den ganzen Apparat unserer technischen Zivilisation in Gange zu halten, wenn nicht auf allen Gebieten – im Gewerbe, in der Industrie, im Handel und Verkehr, in der Landwirtschaft, in Wissenschaft und Technik – das dazu nötige Personal und ein ganzes Heer von Spezialarbeitern herangebildet würde und wenn nicht im Arbeitsprozess selbst jeder den anderen ständig schulen und weiterbilden würde, der Ältere mit seinen Erfahrungen den Jüngeren, der Jüngere mit seiner Initiative den Älteren. Was aber ist die Folge?

Die Folge ist, dass unser ganzes Leben – nicht nur unser Berufsleben – in einem Ausmass verschult ist, wie das in der Geschichte wohl kaum je der Fall war. Verschult bis ins Innerste ist unser ganzes Empfinden, Fühlen, Denken. Das will besagen: Wir empfinden, fühlen und denken in der Regel so, wie wir geschult worden sind, wie wir es – bewusst oder unbewusst – von anderen gelernt und übernommen habe, und nicht so, wie wir es tun würden, wenn wir auf uns selbst gestellt wären. Wir sehen oft – ohne es zu merken – ein Gemälde so, oder wir hören ein Konzert so, und wir denken weltanschaulich, politisch, rechtlich, wirtschaftlich so, wie uns das von anderen – sei es durch Bücher, die Presse, das Radio oder Fernsehen – gelehrt worden ist, nicht aber so oder nur zu einem kleinen Teil so, wie wir selbst sehen, hören, denken würden. Es fehlt darum mehr und mehr an Menschen unter uns, die eigenständig, unverbildet, original und echt sind im Sinne, dass sie das, was sie von anderen gelernt haben und nun selber vertreten, sich selbst abgerungen, sich selbst erkämpft haben; es fehlt an Menschen, die – wenn nicht in allen, so doch in den wichtigsten Fragen – zu einer unmittelbaren, von fremden Einflüssen unabhängigen Stellungnahme überhaupt noch fähig und willens sind. Ja es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass viele Menschen heute zu den höchsten Werten der Kultur überhaupt nur Zugang finden durch die – mehr oder weniger sachgemässe – Schulung, die sie von anderen empfangen haben, ohne dass sie zu denselben ein echtes, persönliches Verhältnis gewinnen.

Soll nun aber – das ist unsere Frage – auch die Kirche durch Veranstaltungen von Erwachsenenkursen und Vorträgen sich an diesem allgemeinen Verschulungsprozess beteiligen? Soll sie ihrerseits dazu beitragen, dass die Menschen auch religiös immer unselbständiger, gebundener, verbildeter werden, speziell in der modernen Form, dass sie zu Diskussionen über Probleme genötigt werden, die sie bis jetzt gar nicht kannten und die gar nicht ihre persönlichen Fragen sind? Ist denn die Kirche – neben der Familie – nicht der ausgezeichnete Ort, an dem es dem Menschen möglich sein sollte, im persönlichen Umgang mit Gott und den Menschen ganz er selbst zu sein, unbeeinflusst zu bleiben von Drittpersonen, die in den letzten Fragen vielleicht ganz anders empfinden und denken, als er es nach seinem eigenen, innersten Wesen tun muss? Ist der Glaube nicht Sache eines jeden einzelnen, seiner ureigensten religiösen Veranlagung und Bedürfnisse?

Ist denn die Kirche – neben der Familie – nicht der ausgezeichnete Ort, an dem es dem Menschen möglich sein sollte, im persönlichen Umgang mit Gott und den Menschen ganz er selbst zu sein, unbeeinflusst zu bleiben von Drittpersonen, die in den letzten Fragen vielleicht ganz anders empfinden und denken, als er es nach seinem eigenen, innersten Wesen tun muss?

So hat man in unserer christkatholischen Kirche in der Tat lange Zeit gedacht und gesprochen. Man hat bewusst den Grundsatz befolgt, es sei von der Kirche dem einzelnen möglichst viel Spielraum und Freiheit zu lassen. Es dürfe die Kirche dem einzelnen vor allem keine verbindlichen Vorschriften machen, ihn nicht auf bestimmte Verhaltensweisen oder gar auf bestimmte Glaubenssätze verpflichten. Es wurde sogar die Parole ausgegeben, dass wir „freidenkende Katholiken“ seien, die an keine Glaubensnormen und kirchliche Verpflichtungen – etwa an den sonntäglichen Gottesdienstbesuch – gebunden seien. Ist das richtig?

Soweit es damals darum ging, in der katholischen Kirche freien Raum für die persönliche Glaubens- und Gewissensfreiheit zurückzugewinnen, war das richtig. Aber es wurde sofort falsch, wenn damit gesagt werden sollte, dass es beim christlichen Glauben bloss um eine Sache des Gefühls und des Empfindens des einzelnen gehe, nicht aber um ein ganz bestimmtes, den Menschen verpflichtendes Denken und Wissen. Der Glaube – nicht oft genug kann das gesagt werden – ist Wissen, besser: er ist die Gewissheit um Gott und die göttlichen Dinge, die nur im Denken, im immer neu ansetzenden Nachdenken über das, was Gott uns in seiner Selbstoffenbarung sagt, errungen, und zwar im gemeinsamen Nachdenken mit anderen zusammen errungen werden kann. Dieses Denken und Wissen um Gottes Offenbarung ist allerdings ganz anderer Art als das Wissen, das uns durch die Schule und die Wissenschaften beigebracht wird: Es ist ein Wissen des Herzens, das heisst ein Wissen, das den ganzen Menschen angeht und ihn, wenn es mit rechten Dingen zugeht, völlig umwandelt, zu einem neuen Menschen macht. Um dieses Wissen des Herzens aber, das nur Gott selbst – aus Gnade – uns schenken kann, hat sich kirchliche Erwachsenenschulung zu bemühen.

Es ist wichtig, dass wir die beiden Arten von Wissen deutlich voneinander unterscheiden. Das Wissen, das uns durch die Schule bis hinauf zur Universität vermittelt wird und das, wie wir gesehen haben, zur Aufrechterhaltung unserer Kultur und Zivilisation unerlässlich ist, setzt uns in den Stand, Einsicht in die Dinge dieser Welt zu gewinnen, sie in ihren innerweltlichen Zusammenhängen zu erkennen, zu ordnen und dadurch Herr über sie zu werden, um sie in den Dienst unseres Lebens zu stellen. Wir können dieses auf die Welt gerichtete Wissen immer weiter vorwärts treiben, dauernd erweitern und vertiefen, bis wir schliesslich durch unser Wissen über die Welt oder einen Ausschnitt aus ihr über sie recht eigentlich Meister werden, ohne dass wir selbst anders werden. Es ist dies ein Wissen, das uns in menschlich besonders ansprechender Weise etwa beim grossen deutschen Dichter J. W. v. Goethe begegnet, der in seinem Hause zu Weimar ein kleines, wohlgeordnetes Universum des Wissbaren und Wissenswerten aufbaute und sich selbst in der Einsamkeit seiner menschlichen Grösse und universalen Bildung als Besitzer eines die Welt umfassenden Wissens verstehen durfte. Gerade umgekehrt verhält es sich mit dem Wissen, das aus dem Glauben stammt. Das Wissen des Glaubens erweitert und bereichert unsere Erkenntnis der Dinge dieser Welt nicht. Es vermittelt uns nicht „Bildung“ und macht uns nicht zu Herren über die Welt. Im Gegenteil: Durch das Wissen, das aus dem Glauben stammt, wird Gott Herr über uns und werden wir seine Diener, werden wir selbst von ihm erkannt, umgewandelt und zu einem neuen Menschen befreit. Wir werden der Einsamkeit, in die uns das weltförmige Wissen versetzt, enthoben und in die persönliche Gemeinschaft mit Gott und unseren Nächsten aufgenommen. Mehr noch: durch das Wissen des Glaubens wird uns das Leben selbst mitgeteilt, das Leben, das aus Gott kommt und uns mit unseren Brüdern vereint.

Gerade das ist nun die besondere Aufgabe kirchlicher Erwachsenenschulung, dass sie uns lehrt, inmitten unserer verschulten Welt, inmitten einer Menschheit, die ihr Wissen immer weiter und höher treibt, bis sie auf dem Mond landet, ohne doch innerlich, geistig und moralisch zu wachsen und reif zu werden, dieses anderer Wissen, das Wissen des Herzens um den unsichtbaren, jenseitigen Gott, der uns wunderbarerweise im Nächsten begegnet, zur Geltung zu bringen oder – wie wir auch sagen können – inmitten dieser Art Welt die Wahrheit Gottes aufleuchten zu lassen und sie unseren Mitmenschen zu bezeugen.

Zwar kann man sagen, dass die Bezeugung der Wahrheit Gottes durch jeden Gottesdienst, durch jede Predigt und Unterrichtsstunde geschieht; aber eben, um den Erwachsenen den Sinn kirchlicher Wahrheitsbezeugung inmitten dieser Welt, die von dieser Wahrheit Gotts nichts weiss und nichts wissen kann, deutlich werden zu lassen und im Einzelnen aufzuzeigen, ist die Erwachsenenschulung nötig. Und zwar kann das im Wesentlichen auf zwei verschiedenen Ebenen geschehen: einmal gilt es, unser eigenes kirchliches Tun, dessen tieferer Gehalt so vielen – auch eifrigen Kirchgängern – verborgen bleibt, in das Licht der Wahrheit Gottes zu stellen, es neu zu prüfen und es sich bewusst zu machen; sodann erweist es sich heute als besonders notwendig, die Wahrheit Gottes in der Auseinandersetzung mit dem Vernunftdenken der Welt und den Anfechtungen, denen sie von ihm her ausgesetzt ist, in ihrer ganzen Grösse und Unvergleichlichkeit einsichtig zu machen.

Nehmen wir das, was im Gottesdienst geschieht, nicht allzu naiv, selbstverständlich und gewohnheitsmässig hin?

Da ist zunächst unser kirchliches Tun. Wissen wir eigentlich, was geschieht, wenn wir am Sonntagvormittag die Predigt hören zusammen die heilige Eucharistie feiern? Nehmen wir das, was im Pfarrer sinnreiche und schöne Worte gefunden; es war eine eindrucksvolle Predigt! – Ist das wirklich alles, was wir zur Predigt zu sagen haben? – Oder wir denken an unsere gemeinsamen Abendmahlsfeiern: Da treten so und so viele zum Abendmahlstisch, die – wie wir alle – der Sündenvergebung bedürfen, um aufgerichtet und getröstet wieder in ihrem Alltag zurückzukehren. Wie schön und sinnreich ist es, dass wir das tun! Wiederum müssen wir uns fragen: Ist das alles, was wir dazu zu sagen haben? Nein, das kann wirklich nicht alles sein, es ist nicht einmal die Hauptsache. In der rechten Predigt wie im gläubig empfangenen Abendmahl erfolgt jedes Mal ein eigentlicher Durchbruch aus der oberen Welt in die unsrige; da geschieht es, dass Gott selbst durch das schwache Menschenwort des Predigers sein eigenes, starkes, ewiges Wort zu uns spricht, da geschieht es, dass im Abendmahl Gott selbst im Leib und Blut seines Sohnes unter uns gegenwärtig wird, nicht nur – wie viele noch immer meinen -, um uns unsere Sünden zu vergeben, sondern um uns immer wieder in das neue, ewige Leben zu versetzen, das von ihm kommt und das er selber ist. Und wie steht es mit unserem christlichen Alltag? Wissen wir, was wir sagen, wenn wir jeden Morgen etwa beten: „Herr, mein Gott, erwecke mein Herz. Lass es wach sein, dir zu dienen“? Wissen wir, dass es jeden Tag nicht nur darum geht, das wir einigermassen christlich leben, so wie wir das selber gerade verstehen, sondern letztlich darum, dass der Herr selbst uns mit seinem Leben erfüllt und dass wir unseren alten Menschen in den Tod geben und im Übrigen nichts anderes tun, als dass wir uns so, wie wir sind, dem Geist des Herrn zur Verfügung stellen und ihm dienen?

Das alles könnten wir wissen, aber wir wissen es immer wieder nicht. Weil in der sichtbaren Welt nichts Greifbares geschieht, weil scheinbar alles beim Alten bleibt, werden wir allmählich vergessliche Hörer und vergessliche Abendmahlsgäste. Wir hören im Grunde auf, an das unerhörte Wunder zu glauben, das im Tun der Kirche jedes Mal geschieht. Für dieses Wunder die Augen zu öffnen und uns den Grund dieses Wunders zu zeigen, das es im Zusammenhang unseres Glaubens, aber auch im Zusammenhang der Welt, in der wir leben, hat, das ist eine der wichtigsten Aufgaben kirchlicher Erwachsenenschulung.

Aber die andere Aufgabe ist nicht weniger wichtig: es zeigt sich nämlich, dass der Glaube selbst, auf dem unser kirchliches Tun gründet, heute von den verschiedensten Seiten her in einer Weise angefochten wird, wie das kaum je der Fall war. Um nur einige Beispiele zu nennen: Es gibt heute, selbst unter den Theologen, nicht wenige, die ohne schlagende Beweisgründe die sogenannte Geschichtlichkeit mancher Worte und Taten Jesu, die uns die Evangelisten berichten, in Frage stellen und sie als unecht, als legendäre Ausschmückungen der späteren christlichen Gemeinden erklären. Was soll da der schlichte Gläubige denken? Wie soll er mit den daraus sich ergebenden Schwierigkeiten und Zweifeln fertig werden? Das kann er allein nicht, wenn ihm nicht in der Zwiesprache mit einem theologisch gebildeten Pfarrer und einer Gruppe Gleichgesinnter der richtige Weg gewiesen wird: dass es nämlich der erhöhte Herr selbst ist, der die Evangelisten so zu uns reden lässt, wie sie tatsächlich reden. Oder es wird der Versuch gemacht, von den Ergebnissen der sogenannten tiefenpsychologischen Forschung her die biblischen Vorgänge und diejenigen unseres eigenen Glaubenslebens aus menschlich-allzumenschlichen Beweggründen zu erklären, so etwa den Glauben an den himmlischen Vater als kindliche Bindung an den irdischen Vater, unser Beten als autosuggestives Selbstgespräch des Menschen zu deuten. Solche und ähnliche Gedanken sind aus dem Bereich der Forschung schon längst in das Denken breiter Volksschichten gedrungen: Wie soll der Gläubige sich in solchen oder ähnlichen Anfechtungen noch zurechtfinden, wenn er nicht im Gruppengespräch unter Anleitung eines erfahrenen Theologen zu unterscheiden lernt zwischen dem, was des Menschen, und dem, was Gottes ist? Oder endlich: Wenn der moderne Mensch sieht, wie Naturwissenschaft, Medizin und Technik eine ganz neue Welt aufbauen, die gleichsam in Konkurrenz tritt zur guten alten Erde, und wenn er dadurch zum Glauben verführt wird, dass der Mensch technisch überhaupt alles könne – muss ihm da der Glaube an den Schöpfergott nicht allmählich verblassen und zur Bedeutungslosigkeit herabsinken? Wie aber soll sich der Gläubige zum biblischen Schöpfungsglauben zurückfinden, wenn er nicht im Gespräch dazu angeleitet wird, die technischen Errungenschaften als einen Ausdruck des Schöpferwillens Gottes mit der Menschheit zu verstehen?

Das alles können nur Andeutungen sein. Aus ihnen dürfte aber so viel ersichtlich werden, dass der Christ diesen und ähnlichen Fragen nicht einfach ausweichen darf, sondern sich ihnen zu stellen hat. Er muss einsehen lernen, dass alles, was menschliche Vernunft erforscht und aufbaut, ihm zwar nicht das Heil bringen kann, aber doch nicht im Widerspruch zu stehen braucht zu seinem Glauben, sondern in den umgreifenden Zusammenhang der Wahrheit Gottes hineingestellt ist und dass nur diese ihm das Heil, die Erfüllung des Lebens bringen kann. Wie beides zusammengehört, die vielen Teilwahrheiten, die uns die Erforschung der Geschichte, der menschlichen Seele oder die Naturwissenschaft vermitteln, und die eine Wahrheit Gottes, das kann vom Glauben her nur in sorgfältiger gedanklicher Arbeit begriffen oder doch wenigstens erahnt werden. Solche gedankliche Arbeit wird uns erst dazu verhelfen, dass wir nicht umgetrieben werden von mancherlei fremden Lehren, sondern sie wird dazu beitragen, dass „unser Herz fest wird, was geschieht durch Gnade“. Als Christen sind wir aufgerufen, zu erkennen und daran festzuhalten, dass über und hinter allem, was menschliche Vernunft wissen und technisch aufbauen kann, stets der Eine steht, in welchem die eine Wahrheit Gottes ein für allemal offenbar geworden ist: Jesus Christus, gestern, heute und derselbe in Ewigkeit. Kirchliche Erwachsenenschulung wäre aber nicht vollständig, wenn sie sich mit solcher Gedankenarbeit begnügen würde. Denn die letztgültige Wahrheit, um deren Erkenntnis es uns gehen muss, ist die lebendige, uns Menschen und dereinst die ganze Welt umwandelnde Heilswirklichkeit Gottes selbst. An dieser Heilswirklichkeit Gottes bekommen wir aber nur Anteil, wenn wir uns immer wieder um die Begegnung mit dem lebendigen Gott selbst bemühen, ihn aufsuchen und seine Kraft und Herrlichkeit in unser alltägliches Leben einströmen lassen. Das aber kann nur geschehen durch fleissiges Lesen der heiligen Schriften und durch das Gebet. Es würde nun allerdings ein besonderes Hirtenschreiben nötig sein, wollten wir auch nur das Wichtigste über die uns Christen auferlegte Pflicht zur Schriftlesung und zum Gebet sagen. Wir müssen uns mit einigen Hinweisen begnügen.

Täglich in der Bibel zu lesen und täglich zu beten, ist noch immer für manche unserer Kirchgenossen der Inbegriff der Frömmelei. Es sei nicht bestritten, dass es wirklich sein kann – dann nämlich, wenn der Gläubige meint, damit ein besonders frommes Werk zu leisten, das ihn vor Gott wohlgefällig macht. Auch soll nicht verschwiegen werden, dass in unserer Kirche lange Zeit das Vorurteil bestand, die häusliche Bibellektüre oder die Durchführung von Bibelabenden wie das gemeinsame Sprechen, sei es des Tischgebetes, des Morgen- und Abendgebetes, oder auch das Beten an Synoden und kirchlichen Versammlungen sei „nicht christkatholisch“. Das ist in den Jahrzehnten gründlich anders geworden. Die Bereitschaft, durch Schriftlesung und Gebet in ständiger Gemeinschaft mit Gott zu leben, ist jetzt in weiten Kreisen da; und dafür wollen wir dankbar sein. Aber es fehlt in dieser Beziehung oft noch an der rechten Führung.

Täglich in der Bibel zu lesen und täglich zu beten, ist noch immer für manche unserer Kirchgenossen der Inbegriff der Frömmelei.

Grundlegend wichtig für die Aufrechterhaltung eines ständigen Verkehrs mit Gott ist zunächst ganz schlicht dies, dass wir uns durch die berufliche und häusliche Arbeit mit all ihrer Hast und Unruhe nicht völlig in Beschlag nehmen lassen, sondern uns im Tagesablauf ganz bestimmte, feste Zeiten vornehmen, in denen wir innerlich zur Ruhe kommen suchen, unsere Sorgen und Begehrlichkeiten zum Schweigen bringen, uns sammeln auf das eine, das not tut, und uns auf unsere ewige Bestimmung besinnen. Solche Momente der Stille sollten Tag für Tag nach einem bestimmten Plan eingehalten werden, je nach unserem Temperament am Morgen früh, um die Mittagszeit oder am Abend, aber auch immer wieder mitten in unserer Arbeit. Man spricht heute so gerne von der rechten Freizeitgestaltung, zu der jetzt vielen von uns durch die beschränkte Arbeitszeit reichlich Gelegenheit geboten ist. Denken  wir genügend daran, dass die segensvollste Freizeitbeschäftigung gerade die wäre, mitten im Getriebe und Lärm unseres Alltags immer wieder stille zu werden vor dem Herrn, sein Angesicht zu suchen, seine Stimme zu hören und zu ihm wie Kinder zu ihrem Vater zu reden? Gottes Stimme vernehmen wir in aller Deutlichkeit aus der Heiligen Schrift. Es kommt nur darauf an, dass wir nicht flüchtig und obenhin in der Bibel lesen, sondern aus ihren vielen, oft schwer verständlichen Worten das eine Wort Gottes heraushören, das er gerade in diese Stunde zu uns spricht, und dass wir dieses eine Wort tagsüber immer wieder in unserem Herzen bewegen und überdenken. Die tägliche Schriftlesung, zu der uns ein Bibellesekalender – zum Beispiel derjenige unseres Jahrbuches – Anleitung geben mag, lässt uns mit der Zeit in der göttlichen Welt recht eigentlich heimisch werden. Wie die Verlesung der Weihnachtsgeschichte am Heiligen Abend, die in unseren Familien vielfach geübt wird, uns jedes Mal das Gefühl heimatlicher Geborgenheit in der Welt Gottes schenkt, so führt erst recht die tägliche Bibellesung uns dazu, dass wir mitten in dieser Welt, die „geistlich wüst und leer“ ist, in Gott und in seinem Reich des Friedens unsere wahre Heimat finden. Es wird dann auch geschehen, dass Gottes Stimme uns nicht nur aus der Bibel, sondern in unserem eigenen leben wie in den Schicksalen anderer Menschen und sogar in den Dunkelheiten und Gefahren des heutigen Weltgeschehens immer deutlicher vernehmbar wird und dass die Welt, die scheinbar ohne Gott ist, uns zur Welt Gottes wird.

Gottes Stimme vernehmen wir in aller Deutlichkeit aus der Heiligen Schrift.

Ebenso wichtig ist nun aber auch das andere: dass wir zu Gott, unserem Herrn, dessen Stimme wir vernommen haben, reden: dass wir zu ihm beten. Es darf aber unser Beten – und darin liegt eine grosse Gefahr – nicht zu einem Monolog, zu einem Selbstgespräch des frommen Menschen werden; sondern unser Gebet muss ein Dialog, echte Zwiesprache mit Gott sein, der durch sein Wort und sein gnädiges Handeln zuerst zu uns gesprochen hat. Darum sollte am Anfang unseres Betens immer die Anbetung Gottes, die Verherrlichung seiner Macht und seiner Liebe stehen, die wir an uns und an andern erfahren durften. Dieser Anbetung wird dann immer auch der Dank und das Lob Gottes folgen für alles, was er für uns getan hat und immer neu tut. Und dann erst dürfen wir Gott für uns und für andere um seine Hilfe, seinen Schutz, seinen Rat und seinen Segen bitten. Auf welche Weise das geschieht, ob in freiem Gebet oder mit Gebetsworten, die die Kirche und ihre Frommen geprägt haben, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, dass das Gebet uns zum Einfallstor wird, durch das die Kräfte der himmlischen Welt in unser Herz einströmen und unsere Gedanken, Worte und Werke reinigen, ordnen und stärken. Aber was für die Schriftlesung gilt, das ist auch wahr für unser Gebet: Es muss regelmässig erfolgen, es muss in unserem Leben zu einer festen Sitte werden, an der wir in allen Lagen des Lebens – nicht nur, wenn es uns schlecht geht und wir Gottes Hilfe benötigen – treu festhalten, ohne dass sie uns zu einer leeren Gewohnheit wird. Das Beten ist schon mit Recht das Atmen der Seele genannt worden, ohne das die Seele verkümmern und zuletzt dem geistlichen Tod verfallen muss. Auch wenn wir nicht immer wissen, wie wir beten sollen, so dürfen wir es nicht mutlos aufgeben, sondern haben auszuharren im Gebet und immer wieder neu zu beginnen, im Bertrauen darauf, dass der Heilige Geist uns zu Hilfe kommt und unser hilfloses Stammeln „übersetzt“, so dass es Gott versteht.

Beides also, die Schriftlesung und das Gebet, muss trotz allen äusseren und inneren Widerständen, trotz der Trägheit unserer Herzen und der Schwachheit unseres Glaubens, seinen festen Platz in unserem christlichen Lebenswandel haben und ständig geübt werden. Nur so findet unser unruhiges, zwiespältiges Herz seine Ruhe in Gott. Nur so finden wir in Gott und durch ihn in der Welt in der wir leben und arbeiten, unsere Heimat, nur so werden wir tätige Glieder seines Reiches. Nur so endlich gewinnen wir in jedem Augenblick die Gewissheit, dass Gott immer da, immer für uns da ist in dem Einen, in welchem Er Mensch und unser Bruder geworden ist, in Jesus Christus.

Im Herrn Geliebte! Ich richte diese Worte der Ermunterung zu gedanklicher Arbeit im Kampfe des Glaubens, zu Schriftlesung und Gebet nicht nur an euch persönlich für euren privaten Gebrauch, sondern auch an die Behörden unserer Gemeinden, die für deren religiös-kirchliches Leben die Mitverantwortung zu tragen haben. Mögen unsere Kirchgemeinderäte, unsere Kirchenpflegen, aber auch unsere Vereine und Organisationen, an ihrem Ort und an ihrer Stelle, die nötigen Anstrengungen unternehmen, dass unsere Gemeinden im wahren Sinne des Wortes fromme Gemeinden werden, Gemeinden, die fest im Glauben stehen und die wissen, was sie glauben und warum sie glauben und die ihrem Glauben gemäss leben und ihre christliche Berufung erfüllen. „Lasset euch“, so rufe ich euch mit dem Apostel zu, „nicht umtreiben durch mancherlei fremden Lehren. Denn ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, was geschieht durch Gnade. Jesus Christus sei euer Herr, gestern, heute und derselbe in Ewigkeit“.