Bischof Hans Gerny hat an der Synode in Solothurn 1997 die Einberufung einer Sondersynode zur Erneuerung der Kirche angekündigt. In seinem Hirtenbrief teilt er seine Gedanken zum Warum und seine Überlegungen zum Wie der Sondersynode mit. Er beschreibt die Kirche als Lebensort, der abhängig ist von den Menschen, die Kirche gestalten. Die kirchliche Gemeinschaft wiederum steht auf dem Fundament Jesu Christi. Die Bedeutung der kirchlichen Erneuerung liegt für ihn nicht in der Sicherung ihrer Existenz, sondern darin, dass in der Kirche die Gegenwart Gottes durch die gestaltenden Menschen spürbar ist.
Person
Hans Gerny
Amt
Bischof von 1986 bis 2001
Siegelwort
«Wir sind Gehilfen eurer Freude.» 2 Kor 1,24
Lebensdaten
* 26.06.1937 in Olten
† 19.01.2021 in Bern
Quellen | Literatur
Bischof Hans Gerny. Predigt auf dem Marktplatz! Hirtenbriefe 1987 bis 2001. Basel 2001.
Hinweis zum Bild
Am 26. Oktober 1986 wurde Hans Gerny von Erzbischof Antonius Glazemaker aus den Niederlanden in Olten zum Bischof geweiht. Bischof Hans Gerny war der fünfte Bischof der Christkatholischen Kirche.
Gnade und Friede Euch von Gott, dem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus!
Als ich 1997 in Solothurn eine Sondersynode für die Erneuerung unserer Kirche ankündigte, waren die Reaktionen sehr unterschiedlich. Sie reichten von freudiger Zustimmung über Verblüffung bis zu schroffer Ablehnung. Das ist bei einem so überraschenden Vorschlag nicht anders zu erwarten. Denn etwas Neues, das man nicht kennt, löst immer Fragen und Aggressionen, Zustimmung und Ablehnung, Ängste und Hoffnungen, Zweifel und Tatendrang aus. Deshalb mussten zuerst die Gefühle und Gedanken etwas sortiert werden, bevor man mit der Arbeit beginnen konnte.
Ich denke, dass dieses Stadium jetzt hinter uns liegt. Mit konkretem Nachdenken und ersten Planungen kann begonnen werden. Deshalb haben Bischof und Synodalrat eine Projektgruppe eingesetzt, die Inhalt, Ziel und Methode unserer Erneuerung skizzieren soll. Ein aussenstehender Berater, der sich in kirchlichen und theologischen Fragen, aber auch in modernen Management-Methoden gut auskennt, wird den ganzen Prozess begleiten. Wir haben diesen Berater deshalb beigezogen, damit mögliche « Betriebsblindheit », unbewusste Abwehrhaltungen, verdeckt Ängste usw. erkannt und überwunden werden können. Zugleich sollen so – und das ist besonders wichtig – verborgene Kräfte, vergessen Kreativität, geistliches Kapital besser entdeckt und fruchtbar gemacht werden können. Nachdem Bischof und Synodalrat die Vorschläge und Gedanken der Projektgruppe überdacht und bearbeitet haben werden, sollen sie der Kirche zur Vernehmlassung und ihren verfassungsmässigen Gremien zur Behandlung und Beschlussfassung vorgelegt werden.
Das sind aber erst methodische Überlegungen. Viel wichtiger sind natürlich die Fragen warum, und dann vor allem wie wir unsere Kirche erneuern wollen. Dazu möchte ich einige Gedanken und Überlegungen vorlegen.
Die erste Frage ist also: Warum wollen wir denn unsere Kirche überhaupt erneuern? Da gibt es zunächst ganz einfache Gründe: Wir lieben unsere Kirche, in der wir vielleicht aufgewachsen oder der wir aus Überzeugung beigetreten sind. Wir haben in dieser Kirche Geborgenheit gefunden. Ihre Gottesdienste sind uns vertraut. Wir finden in ihnen Kraft und Wärme. Wir fühlen uns in unserer Gemeinschaft aufgehoben und getragen. Wir finden in der Kirche Sinngebung für unser Leben. Vielleicht ist sie auch der einzige Ort, wo wir aus unserer Einsamkeit ausbrechen können. Kurz, wir lieben unsere Kirche und genau deshalb wünschen wir sie uns stark und lebendig. Wir möchten, dass sie uns als geistliche und menschliche Heimat erhalten bleibt. All das sind sehr wichtige Gründe. Denn keine Gemeinschaft kann ohne die Liebe und Treue ihrer Angehörigen überleben – eine Kirche schon gar nicht. Die Kraft einer Kirche hängt zu einem guten Teil von der Treue und vom Engagement ihrer Mitglieder ab. Oder etwas bildhafter gesagt: Die Kirche hat keine Hände, die Kirche hat nur uns. Die Kirche kann deshalb nur das tun, was wir tun. Wer weiss, was Kirche ist, wird also nie sagen, die Kirche sollte das und jenes tun. Er oder sie wird sagen: wir sollten das und jenes tun. Es gibt aber viele Menschen, die reden von der Kirche als Instanz oder Institution, wie wenn sie selbst nicht zu ihr gehören würden. Wer so redet, kann zur Erneuerung nichts beitragen. Denn wer von den anderen redet, nicht aber von sich selbst, stiehlt sich aus der Verantwortung. Diese Leute sind wie „ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle“, „denn sie haben die Liebe nicht“ (1 Kor 13,1).
Sie und ich – wir sind die Hände unserer christkatholischen Kirche. Deshalb ist eine Erneuerung der Kirche nur möglich, wenn wir – Sie und ich – wirklich eine Erneuerung wollen. Sie wird nur gelingen, wenn wir unsere Hände brauchen. Denn wir sind die einzigen Hände, die für unsere Kirche etwas tun können. Darum können wir unsere Kirche nur erneuern, wenn wir sie lieben und zu ihr stehen. Wo die Menschen ihre Kirche nicht lieben, sie nicht für ihr Überleben brauchen und nicht ihre Hände sein wollen, da hat jede Kirche schlechte Aussichten.
Und trotzdem: dass wir unser Kirche liebe und sie für unser Leben brauchen, ist für sich allein noch kein zwingender Grund für ihre Existenz. Etwas überspitzt ausgedrückt würde das ja bedeuten, dass wir eine starke Kirche nur darum wollen, um unsere eigenen Bedürfnisse zu stillen. Und das wäre doch ein reichliche selbstsüchtiges Motiv. Deshalb muss es noch andere Beweggründe geben, wenn wir ernsthaft und mit Erfolg an die Erneuerung unserer Kirche gehen wollen. Es braucht Beweggründe, die über uns selbst hinausgehen, weit über unseren Gartenzaun, unsere Gemeinde, unsere Kirche hinaus. Dazu muss ich etwas ausholen.
Die Kirche ist nicht eine gewöhnliche menschliche Gemeinschaft oder ein Verein. Denn sie ist nicht eine menschliche Gründung: sie ist göttlichen Ursprungs, ihre Entstehung geht auf den dreieinigen Gott selbst zurück. Er hat die Kirche entstehen lassen und sie uns, den Getauften, anvertraut. Er hat sie nicht nur darum entstehen lassen, damit es uns wohl ist und wir etwas von seiner Liebe spüren. Er hat sie nicht lediglich für uns ins Leben gerufen, sondern für alle Menschen und für seine ganze Schöpfung. Die Kirche ist für die Welt da. „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“ – sagen wir bei der Einladung zum Abendmahl. Damit wird etwas Zentrales über die Kirche gesagt: Sie ist dazu berufen, den Menschen Hoffnung und Lebensperspektiven zu eröffnen. Sie ist berufen, von Freiheit und Erlösung zu reden, die im Glauben an den Gekreuzigten und Auferstandenen gefunden werden können.
Um diese Tatsache in der Welt (in Wort und Tat!) bekannt zu machen, hat er uns die Kirche anvertraut. Er hat sie uns anvertraut, damit die Welt Ihn spüren und aufnehmen kann. Nicht das Überleben unserer Kirche ist deshalb das Ziel der Erneuerung. Das Ziel und wichtigster Grund jeder kirchlichen Reform ist, dass wir lernen, den Auftrag Christi immer besser zu erfüllen. Wichtig ist nicht in erster Linie die Existenz unserer Kirche, sondern wichtig ist, dass wir alles daran setzen, dass die Menschen spüren, dass in ihr Gott gegenwärtig ist. Damit das gelingen kann, hat er uns den Heiligen Geist versprochen. Der Heilige Geist soll uns helfen, dass sich unsere Kirche nicht von Gott entfernt und wir so zu einer gewöhnlichen menschlichen Institution werden.
„Wir haben Mühe mit der Institution Kirch“, hat vor einiger Zeit eine grosse Zeitung getitelt. Das hört man immer wieder. Offensichtlich unterscheidet sich für viele Menschen die Kirche nicht wesentlich von einem weltlichen Betrieb. Sie erfahren sie als eine Art Bürokratie, die mit Sprechstunden, Formalitäten, Finanzproblemen, Mitarbeiterkonflikten, Strukturfragen usw. sich selbst genügt. Sie wirkt für viele fast wie eine Tinguely-Maschine, die sich zwar lautstark bewegt, dies aber ziel- und inhaltslos tut. Auch wenn einer solchen Beurteilung sicher oft Vorurteil und Missverständnisse zugrunde liegen, müssen wir sie dennoch ernst nehmen. Denn es ist an diesen Beurteilungen wohl einiges richtig – das wissen wir alle aus unserer eigenen Erfahrung nur zu gut. Zudem: nicht nur unser eigenes Bild von der Kirche ist wichtig, sondern auch das Bild, das sich die andern von uns machen. Es ist zwar wichtig, wie wir uns selbst sehen. Aber wie man uns von aussen wahrnimmt, hat Auswirkungen auf das Ansehen der Sache Christi, die man nicht überschätzen kann. Es ist kaum wegzudiskutieren, dass viele Menschen das Gefühl haben, in der Kirche mehr von der Institution zu spüren als vom Reich Gottes. „Wir haben Mühe mit der Institution Kirche“ – diese Schlagzeile darf uns deshalb nicht gleichgültig sein. Wir müssen alles daran setzen, damit die Leute weniger Mühe mit der Kirche haben.
Nur, wie kommen wir vom Image, die Kirche sei eine Institution wie eine andere, weg? Es gibt eine ganz einfache Antwort: indem wir uns tatsächlich anders verhalten als irgendeine Institution oder irgendein Verein. Als die Jünger um Rangordnung streiten, sagt Jesus ihnen harsch: „Bei euch ist es nicht so“. Jesus stellt das ganz einfach fest. Er sagt nicht, bei euch soll es nicht so sein. Wenn die Gemeinde Christi diesen Namen verdient, dann ist ihre Lebensweise eine andere. Es kann dann nicht so sein wie bei den Anderen. Wenn die Menschen uns glauben sollen, dass wir nicht für unsere eigenen Bedürfnisse da sind, müssen sie das ausserhalb der Kirche spüren können. Sie müssen uns anmerken können, dass wir dem Wort Jesu in der Bergpredigt nachzueifern versuchen: „Seid so vollkommen, wie es auch euer Vater im Himmel ist“ (Mt 5,48).
Das ist natürlich sehr leicht gesagt. Und trotzdem zeigt diese einfache Antwort den einzig möglichen Weg zur Erneuerung der Kirche auf. Die Erneuerung muss bei uns beginnen – in unseren Köpfen und Herzen – bei Ihnen und bei mir also. Wir können die Erneuerung nicht durch andere machen lassen. Verantwortung lässt sich nicht delegieren. Wir müssen Erneuerung selbst wollen und selbst mittragen, wenn sie möglich sein soll.
Jesus selbst weist immer wieder darauf hin, dass seine Gemeinde anders leben muss, als man sich das gewöhnt ist. Seine Jüngerinnen und Jünger haben sich anders zu benehmen, als das allgemein üblich ist. Wer aus dem Wasser und dem Heiligen Geist wiedergeboren ist (vgl. Joh 3,6), wird auch auf neue Art leben. Eigene Bedürfnisse können in der Gemeinschaft der Gläubigen nicht im Vordergrund stehen. Priorität haben im Leben der Gläubigen nicht die Selbstverwirklichung, das eigene Recht, die eigenen Wünsche. Natürlich muss das alles auch ernstgenommen werden. Im Vordergrund steht jedoch immer die Sache Gottes. „Richtet euren Sinn auf das Himmlische und nicht auf das Irdische“, heisst es Kolosserbrief (3,2). Damit wird etwas sehr gefährliches gesagt. Denn das widerspricht ja diametral der gängigen Sicht unserer Zeit. Unsere Zeit ist eine Zeit des Umbruchs. Unsere Gesellschaft zerbröselt. Der „Kitt“ der Gemeinschaft ist in den Industrienationen spröde geworden. Vielleicht führt diese Auflösung zu neuen Formen verantwortlichen Zusammenlebens, vielleicht zum Zerfall – das wissen wir nicht. Aber die gegenwärtige Situation führt zu einer Überbetonung der eigenen Bedürfnisse. Das Trachten nach dem, was unten ist, ist oft gesellschaftsfähig geworden. Darüber wollen wir nicht jammern. Und wir müssen auch wissen: Bei den Andren kann ich daran natürlich nichts ändern. Man soll das auch nicht versuchen, sonst werden wir zu Schulmeistern. Bei mir selbst hingegen kann ich sehr wohl etwas zu ändern versuchen.
Nur: wie sollen wir das machen? Wir fühlen uns doch alle hilflos. Wie soll ich denn bei mir dafür sorgen, dass „es bei mir nicht so ist“? Dieses Gefühl der Hilflosigkeit sagt etwas sehr wichtiges aus: Es zeigt, wie sehr wir einander in geistlichen Fragen allein lassen. Wir reden in unseren Gemeinden über alles Mögliche – über einen Ausflug, die Jugendlichen, die Finanzen, Gottesdienstformen usw. Das alles muss sein. Aber stützen wir uns in geistlichen Dingen? Können wir miteinander darüber reden, dass wir es nicht fertig bringen, so zu leben, wie es Jesus gerne von uns hätte? Können wir darüber reden, dass wir oft nicht recht beten können? Können wir darüber reden, dass wir zweifeln, vielleicht sogar nicht glauben können? Wir können nicht. Wir haben Hemmungen und keine Übung. Wir sind nicht in der Lage, „einer des anderen Last zu tragen“ (Gal 6,2).
Ich bin überzeugt, dass das nicht nur ein Symptom unserer Zeit ist, sondern es sicher auch eine Eigenheit unserer Kirche. Wir haben zu schwache geistliche Strukturen. Wir haben zwar mit Recht den Beichtzwang (nicht aber die Beichte!) abgeschafft, gleichzeitig aber viel Kultur des geistlichen Gesprächs zerstört. Wir vermochten nicht, an die Stelle des Beichtzwanges eine bessere Form des geistlichen Gesprächs zu setzen. Ich bin überzeugt, dass es eine erste Aufgabe der Erneuerungsarbeit ist, dass wir neue geistliche (nicht administrative!) Strukturen aufbauen. Das ist die Idee, die hinter den Dekanaten steckt (man kann sich auch anders nennen). Sie sollen nicht Verwaltungskreise sein, sondern geistliche Gemeinschaften, in denen Geistliche miteinander ein geistliches Leben führen. Das soll nicht frommer Selbstzweck sein, sondern helfen, dass die spirituelle Kompetenz unseres Klerus vertieft und gestärkt wird. Sie soll auch die Einsamkeit überwinden helfen, an der viele Geistliche leiden. Denn in der Kirche arbeiten ist heute oft hart und frustrierend geworden. Hier ist Mitbeten und Mittragen dringend gefordert.
Natürlich – genau das gilt auch für die Laien. Auch sie müssen in ihrer Gebetseinsamkeit, in ihrem bedrohten Glauben gestützt werden. Und gerade dazu sind spirituell kompetente und überzeugende Amtsträger notwendig. Ich rede damit keineswegs einer Klerikalisierung das Wort. Auch die Laienämter sind geistliche Ämter. Auch sie brauchen geistliche Kräftigung und Begleitung. Nicht nur die Kirchengeschichte, sondern auch unsere eigene Erfahrung zeigt aber, dass der Klerus in der Kirche eine ganz besondere zentrale Rolle hat. Geistliche waren und sind für viele Menschen oft die Tür zur Gemeinde. Das wissen die Geistlichen natürlich auch. Deshalb ist in der Pastoralkonferenz festgestellt worden, dass die „Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verantwortungsträger*innen sowie Führungskompetenz und menschliche Glaubwürdigkeit“ gestärkt werden müssen. Man kann diese Forderung aus dem Kreis er Pastoralkonferenz nicht ernst genug nehmen.
Es ist ein vordringliches Ziel der Erneuerung, dass die Glaubwürdigkeit der Kirche gestärkt wird. Man darf nicht mehr sagen können: In der Kirche geht es auch nicht besser zu. Ich bin überzeugt, dass wir alle unsere ethische Verantwortung überprüfen müssen. Hier nur ein paar zufällig ausgewählte Beispiele: Was haben wir für eine Geld- und Geschäftsmoral? Sind wir immer so ehrlich, wie wir sein könnten? Setzen wir uns gegen rassistische und sexistische Witze auch in unsrer Umgebung zu Wehr? Wie gehen wir mit Beziehungsproblemen um – versuchen wir sie wirklich zu lösen, wie es gläubiger Christen würdig ist? Setzen wir uns dafür ein, dass Alleinerziehende oder Arbeitslose so behandelt werden, wie wir es für uns oder unsere Nächsten auch wünschten? Ist das banal oder moralinsauer? Ich glaub es eigentlich nicht. Denn unsere kirchliche Erneuerung sollte bewirken können, dass die Menschen einmal sagen müssen: „Bei ihnen ist es tatsächlich nicht so!“ Das muss unser Ziel sein. Und wenn wir ihm näher kommen, wird es unserer Kirche besser gehen.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen.
Amen.