Kirchliche Erwachsenenbildung: Antwort auf Urs Kürys Hirtenbrief von 1969

Lieber Bischof Urs Küry,

im Jahr 1969 hast du deinen Hirtenbrief mit folgenden Sätzen begonnen:

«Über die Notwendigkeit einer gründlichen kirchlichen Erwachsenenschulung kann kein Zweifel bestehen. Alle Glieder der Kirche brauchen Hilfe, Aufklärung, Weisung, um in der modernen Welt als Christen bestehen und ihre Beru­fung erfüllen zu können. Und dies um so mehr, als alles im Wandel begriffen ist: was gestern noch galt, ist heute überholt.»

Würdest du, lieber Bischof Urs, die Kirche und die Welt von heute betrachten, dir würde bewusst, wie recht du damals hattest. Geblieben ist die Notwendigkeit einer, wie du es ausdrückst, «gründlichen kirchlichen Erwachsenenschulung». Verändert hat sich der Kontext, in dem sie geschieht, und die Art, sie zu praktizieren.

Du streichst die Notwendigkeit für Erwachsenenbildung – ich brauche dieses Wort, obwohl du es nicht magst – du streichst die Notwendigkeit für Erwachsenenbildung heraus, weil mit dem Religionsunterricht im Kindes- und Jugendalter die kirchliche Bildung nicht erledigt ist. Zwar bietet es dir immer wieder Anlass zur Freude, wenn du bei jungen Erwachsenen die Früchte sehen kannst, die der Religionsunterricht hervorgebracht hat, doch du siehst bereits 1969 die Defizite.

Zu deiner Zeit konntest du noch nicht ahnen, wie sehr sich die Situation bis heute, ein halbes Jahrhundert später, verändern würde. Die religiöse Sozialisation, die die Kinder und Jugendlichen im Elternhaus erfahren, ist heute deutlich geringer als zu deiner Zeit. Gleichzeitig ist der zeitliche Umfang des Religionsunterrichts zurückgegangen und hat die Selbstverpflichtung der Familien, ihn gegenüber anderen Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen als Priorität anzusehen, nachgelassen. Wir müssen heute mehr leisten, in weniger Zeit und mit weniger verbindlichem Engagement der Familien.

Eines der Projekte, das wir im Moment verfolgen, ist ein neuer Lehrplan für den Religionsunterricht. Die kirchliche Öffentlichkeit steht hinter diesem Projekt, was wir am schönen Ergebnis der Advent-Sammlung vor zweieinhalb Jahren sehen, die dafür bestimmt war. Wir können in der heutigen Situation kein Lehrmittel mehr haben, das Katechetin oder Katechet, Pfarrerin oder Pfarrer Anfang Schuljahr aufschlagen, eine pfannenfertige Lektion nach der anderen durchführen und Ende Schuljahr mit dem Ordner fertig sind. Viele Gemeinden unterrichten in halbtägigen Blöcken, nicht in Lektionen. Die Altersdurchmischung der Gruppe ist viel stärker.

Was gleich geblieben ist gegenüber deiner Zeit: Wir betrachten es immer noch als ein grosses Ziel des Unterrichts, sich nicht nur intellektuell und distanziert mit dem Glauben zu beschäftigen, sondern die christliche, die christkatholische Glaubenspraxis einzuüben. Mit dem neuen Lehrplan und den Unterrichtshilfen wollen wir versuchen, den Unterricht noch stärker ins Leben der Gemeinden einzubinden – viele Gemeinden haben dazu schon von sich aus Anstrengungen unternommen. Wir sehen Unterricht auch als ein spirituelles und ein gemeinschaftliches Geschehen. Die christkatholische Identität und die Verbindung mit der Kirche sollen bei den Kindern gestärkt werden. Das Projekt wird von einer kleinen Arbeitsgruppe unter der Leitung von Priester Patrick Zihlmann vorangetrieben und durch Prof. Franziska Vogt, eine ausgewiesene Expertin in Lehr-Lern-Forschung, fachlich begleitet.

Doch wie du, lieber Bischof Urs, schon 1969 geschrieben hast, reicht der Religionsunterricht im Kindes- und Jugendalter nicht aus. Du entwirfst das Bild einer Erwachsenenschulung, welche die Menschen zu einem spirituellen Leben anleitet. Das ist heute genauso wichtig wie zu deiner Zeit, wahrscheinlich sogar noch wichtiger. Ich möchte dem aber noch eine andere Art der Erwachenenbildung zur Seite stellen, die mir dem 21. Jahrhundert angemessen erscheint: Die Auseinandersetzung mit dem Glauben in einer wissenschaftlich und technisch dominierten Welt. Weniger denn je dürfen wir heute als Kirche auftreten und vorgeben, alles besser zu wissen und die Lösung zu kennen. Eine besserwissende Kirche ist den Menschen von heute, zu recht, ein Gräuel.

Mir hat beim Verständnis von Erwachsenenbildung ein amerikanischer Theologe geholfen, dem du, Bischof Urs, vielleicht einmal in der Ökumene begegnet bist: George Lindbeck. Er hat den Glauben mit der Muttersprache verglichen: Wir wachsen in den Glauben hinein, wir erfinden ihn nicht selber, er ist schon da. Wir eignen ihn uns an, indem wir uns in der Glaubensgemeinschaft bewegen. Wir lernen durch Immersion, nicht durch Katechismus pauken. Dies gilt im Glauben für Kinder genauso wie für Erwachsene. Deshalb rate ich neu Beigetretenen immer, sich regelmäsig am Gemeindeleben zu beteiligen, um das Christkatholischsein nicht nur zu verstehen, sondern einzuüben.

Aber in unserer Muttersprache kennen wir oft die Grammatikregeln nicht so gut. Wir hören, was richtig und was falsch ist, können aber nicht erklären, warum. Ich verstehe, im Anschluss an Lindbeck, Erwachsenenbildung in der Kirche als Grammatikunterricht für Muttersprachler: Wir setzen uns vertieft mit dem Glauben auseinander, um besser zu verstehen, wie der Glaube tickt. Dies, damit die Laien nicht nur den Glauben mitleben und mitfeiern können, sondern ihn auch so gut verstehen, dass sie sich bei Diskussionen über Glaubensfragen kompetent beteiligen können. Dabei ist uns immer wichtig, die Gläubigen als kritische Menschen des 21. Jahrhunderts ernst zu nehmen.

Dieses Anliegen erkennt man schon in den Titeln von Kursen, die wir in der Vergangenheit durchgeführt haben, zum Beispiel «Kann ich das wissen oder muss ich das glauben?» oder der Klassiker von 2005, der mein Einstieg als Erwachsenenbildner war, «Christkatholisch zum Mitreden». Diese und andere Kurse liegen bereit und können jederzeit in einer Gemeinde wieder durchgeführt werden. Der gleiche Gedanke steckt hinter der Wanderausstellung «unterwegs» zu den Jubiläen der christkatholischen Kirche: Wir wollen nicht einfach das hochleben lassen, was christkatholisch früher einmal war, sondern uns als Menschen des 21. Jahrhunderts damit auseinandersetzen, was christkatholisch heute ist und sein soll.

In den letzten Jahren ist die interreligiöse Perspektive in der Erwachsenenbildung wichtiger geworden, bearbeitet vor allem durch Miriam Schneider. Ihr wichtigstes Projekt ist die Vernetzung und Information, was in der christkatholischen Kirche interreligiös geschieht, der nächste Schritt dabei ist ein Ausbau der Webseite.

Lieber Bischof Urs, du siehst, die Arbeit ist seit deiner Zeit nicht weniger und auch nicht einfacher geworden. Wir haben aber einige Projekte am Laufen, die dein Anliegen aus dem Hirtenbrief von 1969 weiterführen.

Ich grüsse dich in christkatholischer Verbundenheit aus dem Jahr 2022,

Adrian Suter, Pfarrer in Luzern und Leiter der Fachstelle Bildung