Aufbruch im Umbruch

Für Bischof Harald Rein sind die Säkularisierung und die Zukunft der Kirchen Dauerthemen. Er stellt fest, dass die meisten Menschen auf der Suche nach Sinn und Spiritualität sind. Gleichzeitig nehmen ein institutionsloses Christentum oder eine individuell bestimmte Religiosität zu. Doch was bedeutet das für die Kirche? Seine Überlegungen möchten zur Reflexion und Austausch einladen.

Bischof Harald Rein Firmung 2022 in Bern
(Quelle: Heinz Kolb)

Person
Harald Rein

Amt
Bischof von 2009 bis 2023

Siegelwort
«Nicht Menschenlob, nicht Menschenfurcht.» C. A. von Galen

Lebensdaten
* 01.10.1957 in Bochum

Hinweis zum Bild
Bischof Harald Rein bittet um die Entfaltung der Gabe des Heiligen Geistes anlässlich der Firmung 2022 in Bern.

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2023

An die Christkatholikinnen und Christkatholiken

«Seid stets bereit, Rede und Antwort zu stehen, wenn jemand von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt.»

(1. Petrusbrief 3,15)


Liebe Glaubensgeschwister,

Bücher, Aufsätze, Hirtenbriefe, Podiumsdiskussionen. Die Säkularisierung und die Zukunft der Kirchen sind Dauerthemen. Der Trend der Säkularisierung setzt sich unaufhaltsam fort; ebenso die Mitgliederabnahme in den Kirchen und deren Überalterung. In vielen Kirchgemeinden wird es schwierig hinsichtlich des sonntäglichen Gottesdienstbesuches und dem Finden Ehrenamtlicher für die Behörden. Taufen und Trauungen nehmen ab, mittlerweile auch die Beerdigungen; ebenso die Anzahl der Theologiestudierenden.

Gleichzeitig lässt sich ein anderes Phänomen feststellen. Obwohl die Zahl der Konfessionslosen in der Schweiz in den nächsten Jahren die 40% Marke überschreiten wird, sind die meisten Menschen nach wie vor auf der Suche nach Sinn und Spiritualität. Das heisst: ein institutionsloses Christentum bzw. eine individuell bestimmte Religiosität nehmen zu. Braucht es für den christlichen Glauben die Kirche?

Konfessionell oder ökumenisch geprägte Kirchentage mit dem Thema «Ist die Kirche noch zu retten?» finden vermehrt statt, obwohl dies eigentlich ein Paradox ist. Denn wenn die Veranstaltenden nicht der Überzeugung wären, dass die Kirche zu retten ist, könnten sie ihre Zeit sinnvoller verwenden.

Widersprüche und Unklarheiten sind Zeichen des Umbruchs und der Veränderung.

Meines Erachtens besteht kein Grund zu Panik. Stellen wir uns der notwendigen Transformation. Der diesjährige Hirtenbrief versucht, diesen Prozess anzuregen und zu gestalten. Vaclav Havel (ehemals Präsident von Tschechien und Schriftsteller) hat gesagt: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

Vaclav Havel

Grundsätzlich

Weltweit gibt es neun Milliarden Menschen. Davon sind 2,5 Milliarden christlichen Glaubens. Das Christentum ist die grösste und am meisten verfolgte Religion. Ausserhalb Europas und Nordamerikas boomen die Kirchen. Und die Zusage Jesu „Seid gewiss: Ich bin bei Euch alle Tage bis das Ende der Welt gekommen ist“ (Evangelium nach Matthäus 28,20) gilt der Kirche als solcher und nicht einer bestimmten Konfessionskirche oder einem bestimmten Kulturraum. Es sind schon kleinere Kirchen als die Christkatholische Kirche grösser geworden und es sind schon grössere Kirchen als die Christkatholische Kirche untergegangen. Es gehört zum Schöpfungsauftrag Gottes, dass sich die Welt verändert und wir jeweils versuchen müssen, das Bestmögliche daraus machen.

Aber was hat sich eigentlich verändert? Warum und wie? Was nehmen wir wahr und wie deuten wir es? In der Religionssoziologie für den deutschsprachigen Raum spielen zwei Theorien eine wichtige Rolle.

Für die ältere Theorie steht der Name Max Weber. Sie besagt in Kurzform: Wir stehen historisch nicht am Anfang eines Prozesses, sondern an seinem Ende. Es begann mit der Aufklärung und der Französischen Revolution. Beides steht für den Fortschritt bzw. die Naturwissenschaften, die die archaisch-religiöse Welt „entzauberten“. Jetzt kommen wir langsam am Schlusspunkt der Entzauberung an. Die Menschen brauchen die Religion bzw. die Kirchen zu ihrer persönlichen Sinnfindung nicht mehr. Durch die Entzauberung haben die Kirchen ihr Monopol verloren. Deshalb werden nur noch die Menschen einer Kirche angehören, die dies aus innerer Überzeugung möchten und ihre persönliche Sinnfindung dort beheimatet wissen. Logischerweise ergibt sich daraus ein Schrumpfungsprozess für die bisherigen Volks- und Landeskirchen hin zu kleineren Bekenntniskirchen.

Für die aktuelle Theorie nenne ich den Namen Hans Joas. Er leugnet nicht die eben beschriebenen Phänomene der Säkularisierung, bestreitet aber den Denkansatz, dass ein technischer und wirtschaftlicher Fortschritt, verbunden mit einer Wissenszunahme und einer besseren Bildung, unvermeidlich eine Schwächung aller Religion herbeiführe. Er sieht das Problem nicht in der Entzauberungstheorie, sondern in der Institution Kirche. Die Schwächung der Kirchen im deutschsprachigen Raum beruht seiner Auffassung nach in dem Sachverhalt, dass es ihnen und den kirchlich orientierten Elterngenerationen nicht mehr gelang, die Kinder in religiösen Dingen so zu begleiten, dass sie ihrer angestammten Glaubensgemeinschaft treu geblieben sind. Es kam zu einer Erschöpfung der christlichen Sprache und der Weitergabe christlicher Glaubensinhalte an die nächste Generation.

So gesehen hängt die Zukunft einer Kirchgemeinde davon ab, ob es ihr gelingt, Menschen aufzuzeigen und vorzuleben, dass das Feiern und Leben des christlichen Glaubens gemeinsam mit anderen eine sinnstiftende Alternative zu rein individueller religiöser Selbstfindung ist.

So gesehen hängt die Zukunft einer Kirchgemeinde davon ab, ob es ihr gelingt, Menschen aufzuzeigen und vorzuleben, dass das Feiern und Leben des christlichen Glaubens gemeinsam mit anderen eine sinnstiftende Alternative zu rein individueller religiöser Selbstfindung ist. Als Christ wird man nicht geboren. Christ/in wird man dadurch, dass andere einem aufzeigen, dass die Zugehörigkeit zu einer christlichen Gemeinde ein Gewinn ist.

Konkret

Die Christkatholische Kirche hatte am 31.12.2022 rund 12´000 vor allem ältere Mitglieder. Der Mitgliederbestand ist stagnierend, da die erfreulichen Beitritte und Taufen die Todesfälle nicht in jedem Jahr ausgleichen können. Diese Entwicklung ist auch mit Verschiebungen verbunden. Im Gegensatz zu früher leben die Hälfte unserer Mitglieder nicht mehr in den beiden ehemaligen Hochburgen Fricktal/Aargau und Niederamt/Solothurn. Während die Stadtgemeinden an Mitgliedern wachsen, nehmen sie in den ländlichen Gegenden ab. Die dadurch notwendige Bündelung der personellen und finanziellen Ressourcen geht nur mühsam voran; insbesondere die zentrale Arbeitsverteilung und Entlöhnung der Geistlichen. Es geht darum, genau hinzusehen und zu wissen, was man will und was Sinn macht.

In jeder Umbruchsituation stellt sich die Frage, was die eigentliche Kernaufgabe der Kirche allgemein und unserer Konfessionskirche im Speziellen ist. Oder profan ausgedrückt: Was ist wirklich systemrelevant? Worauf können wir verzichten? Worauf nicht?

Stellen Sie sich vor, per 31.12.2023 würden alle Kantone in der Schweiz Staat und Religion trennen und die bisherigen Mitglieder der drei Landeskirchen müssten sich per 1.1.2024 bei ihrer ehemaligen Kirchgemeinde vereinsrechtlich neu einschreiben. Was bliebe da übrig? Ich schätze bei der römisch-katholischen Kirche 20% und bei der evangelisch-reformierten 10%. Bei uns gehe ich davon aus, dass dies aufgrund der Kleinheit und einer damit engeren persönlichen Bindung 30% sein könnten. Rechnen Sie selbst!

In jeder Umbruchsituation stellt sich die Frage, was die eigentliche Kernaufgabe der Kirche allgemein und unserer Konfessionskirche im Speziellen ist.

Was können wir als Christkatholische Kirche tun, damit die Relevanz des Christentums in unserer schweizerischen Gesellschaft bewusst bleibt?

Zu diesem Thema könnte ich vieles schreiben. Ich beschränke mich aber schlagwortartig auf das Wichtigste und setze den Fokus im folgenden Kapitel auf die strukturellen Konsequenzen:

  • Es werden nur die Kirchgemeinden eine Zukunft haben, die wie Inseln, Oasen, Burgen oder Leuchttürme die Menschen anziehen und erfrischen.
  • Kirchgemeinden, die verkünden, dass Gott uns nicht im Stich lässt, dass er uns alle geschaffen hat, so wie wir sind. Dass er uns in unserem Leben trägt und am Ende des irdischen Lebens auf uns wartet. So wie es in unserem Eucharistiegebet heisst: Den Tod des Herrn verkünden wir und seine Auferstehung preisen wir, bis er kommt in Herrlichkeit. Das ist unsere eigentliche Aufgabe, verbunden mit Diakonie und Seelsorge. Der Identitätssicherung kommt eine grosse Bedeutung zu. Viele Menschen wissen nicht mehr, was Christsein bedeutet.
  • Alle etablierten Volks- und Landeskirchen im deutschsprachigen Raum sind überinstitutionalisiert und überklerikalisiert. Weniger wäre mehr. Die Kirchgemeinde der Zukunft wird von vielen Schultern getragen. Das gemeinschaftlich getragene kirchliche Leben findet in grösseren geografischen Räumen mit weniger Gemeinden und Zentren statt.
  • Die Kirche tut den Menschen Gutes: geistlich, seelsorgerlich, liturgisch und diakonisch.
  • Die Kirche muss emanzipatorisch und partizipatorisch sein und alle Mitglieder in die wichtigsten Entscheidungen und in die Identität mit einbinden.
  • Unsere Kernaufgabe ist die „Jüngerschaft“ in der Welt als Zeugen und Zeuginnen. Gott ist so zu sagen der „Evangelist“ bzw. Verkünder, wir sind seine Instrumente, um anderen Menschen den christlichen Glauben nahe zu bringen. Wir müssen bezeugen, nicht überzeugen. Wachstum geschieht von selbst, wenn wir in die Kirche gehen und andere einladen mitzukommen.
  • Aufgabe der Kirche ist es, wie ein Löwe zu brüllen gegen die Ungerechtigkeit der Welt. Das kann je nach Erdteil und Kultur anders erfolgen.

Strukturelle Konsequenzen

Meines Erachtens drehen wir uns seit Jahren im Kreis. Sobald sich jemand für eine Veränderung der bisherigen Strukturen einsetzt, meldet sich ein anderer zu Wort und wünscht zuerst eine Grundsatzdiskussion über unsere Ziele. Denn das Inhaltliche und das Spirituelle seien wichtiger als Strukturen. Dann mahnt ein weiterer vorrangig eine Befindlichkeitsrunde an. Und wenn beides stattgefunden hat und für Beratungen aller Art Geld ausgegeben wurde, sind wieder zwei Jahre herum, ohne dass sich viel verändert hat. Das Spiel beginnt von vorne und wir werden trotz kleiner Fortschritte immer mehr zu einer erschöpften Organisation. Es handelt sich bei diesem Phänomen nicht um bösen Willen, sondern um Verdrängung, weil man sich im Grunde genommen nicht ändern will. Alles soll so bleiben wie es ist, aber bitte mit mehr Mitgliedern.

Daher ist es höchste Zeit, Prioritäten zu setzen und umzusetzen.

Ich skizziere aus meiner Wahrnehmung und Erfahrung, was Not tut:

  1. An erster Stelle muss das Bistum stehen
  2. Kirchgemeinde muss Kirchgemeinde sein
  3. Bildung von Regionen mit weniger Kirchgemeinden als Übergangslösung.

Daher ist es höchste Zeit, Prioritäten zu setzen und umzusetzen.

1. An erster Stelle muss das Bistum stehen

Als unsere Kirche entstand, haben wir bewusst sowohl ein katholisches Bistum mit Bischof geschaffen als auch eine fast absolute Gemeindeautonomie eingeführt. Das hat damals Sinn gemacht als Abgrenzung gegenüber dem römisch-katholischen Zentralismus. Heute brauchen wir für den optimalen Dienst unserer Geistlichen und eine gerechte Verteilung der personellen und finanziellen Ressourcen andere Strukturen. Konkret heisst das (wie es auch der angenommene Antrag auf der Nationalsynode 2022 beinhaltet) eine zentrale Entlöhnung aller Geistlichen durch die Finanzverwaltung des Bistums. Stellenplanung und Stellenverteilung werden über die Nationalsynode gesteuert. Sie legt fest, was als Kirchgemeinde gelten soll und nach welchen Kriterien die Stellenprozente im Bistum verteilt werden. Die genaue Zahl der Mitglieder, ihre Altersstruktur, die geografische Grösse, etwaige Besonderheiten vor Ort usw. werden als Faktoren bei der Bemessung eine Rolle spielen. Das schränkt die Stellenausschreibung und die Wahl des Pfarrers / der Pfarrerin durch die jeweilige Kirchgemeinde nicht ein. Dies geschieht so auch bei allen unseren altkatholischen Schwesterkirchen und bei den beiden anderen grossen Schweizer Landeskirchen; allerdings nur auf kantonaler Ebene. Für kantonale Lösungen ist unsere Kirche schlicht zu klein. Hier bietet sich deshalb die Bildung von Regionen als Übergangslösung an.

Durch eine solche Bündelung würde auch die Professionalisierung unserer Gremien und der ehrenamtlich Tätigen gestärkt. Viele Aufgaben sind komplexer und anspruchsvoller geworden.

2. Kirchgemeinde muss Kirchgemeinde sein

Haben Sie schon einmal überlegt, welches die Kriterien sind, um eine Kirchgemeinde zu bilden?

Dafür zwei Beispiele:

Wenn orthodoxe oder anglikanische Glaubensgeschwister in der Schweiz im Kontext der Migration eine eigene Kirchgemeinde gründen möchten, dann stellt der zuständige Bischof etwa folgende Bedingungen:

  • Es müssen so viele Personen / Familien durch alle Generationen hindurch nachweisbar sein, dass jeden Sonn- und Feiertag ein Gottesdienst stattfinden kann.
  • Alle Dienste und Ämter für Laien, die eine Kirchgemeinde braucht, müssen besetzt werden können, insbesondere die Kirchenpflege / der Kirchenrat mit mindestens 5 Personen.
  • Regelmässiger Religionsunterricht für Kinder und Jugendliche wird durchgeführt.
  • Der freiwillige Mitgliederbeitrag muss ausreichen um einen Gottesdienstraum, einen Versammlungsraum, eine 100% Pfarrstelle, sonstige Sachkosten und den Beitrag an das Bistum zahlen zu können.

In unserer deutschen altkatholischen Schwesterkirche geht die kirchliche Lohnsteuer an das Bistum und alle anderen kirchlichen Steuereinnahmen an die Kirchgemeinden. Das Bistum zahlt eine 100% Pfarrstelle wenn:

  • Die Kirchgemeinde mindestens über 250 Mitglieder verfügt.
  • Eine Kirchenpflege / ein Kirchenrat mit mindestens 5 Personen existiert.
  • Regelmässiger Religionsunterricht stattfindet und
  • alle weiteren Kosten für das Gemeindeleben aus eigenen Mitteln erbracht werden können.

Das entspricht auch wissenschaftlichen Untersuchungen, die davon ausgehen, dass es für ein funktionierendes Gemeindeleben, verbunden mit einer Ausstrahlung nach aussen eine Kerngemeinde von mindestens 100 aktiven Personen braucht.

Bei uns lief da leider die letzten Jahrzehnte einiges schief. Sobald das Geld knapp wurde und die Kirchgänger/innen weniger, ist man vielerorts dazu übergegangen, die Anzahl der Gottesdienste zu reduzieren und die Stellenprozente der Geistlichen zu kürzen. Das Geld wird in den Erhalt der Liegenschaften gesteckt und in ein Sekretariat, welches das Ganze organisatorisch am Laufen hält. Die Gemeindeautonomie, die Eigenexistenz und die Beibehaltung des Gottesdienstortes wurden über alles andere gestellt. Oder zwei solcher Gemeinden stellen einen Pfarrer zu je 50% an, haben aber Erwartungen und Wünsche für 200%. Der Theologe Jaroslav Pelikan beschrieb dieses Phänomen so: „Die Tradition ist der lebendige Glaube der Toten, dem wir unser Kapitel hinzufügen, solange wir die Gabe des Lebens haben. Traditionalismus ist der Todesglaube der Lebenden, die befürchten, dass das Ganze zusammenbricht, wenn sich etwas verändert“. Die Bibel spricht aber von einer neuen Erde und einem neuen Himmel, wenn das Reich Gottes anbricht.

Natürlich gibt es auch Aufbrüche. Ich denke hier an die entstandenen Gemeindeverbände und andere Kooperationen. Aber meines Erachtens geht vieles zu langsam und zu halbherzig.

Daher halte ich den Zusammenschluss von kleinen Kirchgemeinden zu einer grösseren Kirchgemeinde, die die genannten Kriterien erfüllt, für notwendig. Und dabei geht es eben nicht um Strukturveränderung um der Strukturveränderung willen, sondern um ein besseres und freudigeres Gemeindeleben mit Ausstrahlung nach aussen, dem die Strukturveränderung dient.

3. Bildung von Regionen mit weniger Kirchgemeinden als Übergangslösung

Es gibt im Leben nicht nur schwarz und weiss. Vieles ist bereits in Bewegung geraten, insbesondere in den Regionen. Ich denke hier an den Gemeindeverband Christkatholische Kirche im Fricktal und die Landeskirche Baselland. Ich könnte mir vorstellen, dass die Landeskirche Baselland ihre Zusammenarbeit mit der Kirchgemeinde Basel-Stadt oder dem Fricktal intensiviert; die Kirchgemeinden Zürich, Schaffhausen und St. Gallen auch einen Verband schliessen; ebenso die Kirchgemeinden Baden-Brugg-Wettingen, Aarau-Zofingen und Schönenwerd-Niedergösgen; auch wäre eine verstärkte Zusammenarbeit der Kirchgemeinden Region Olten, Solothurn und Grenchen sinnvoll. Im Kanton Bern sollten sich die vier Kirchgemeinden ähnlich wie in Zürich zu einer zusammenschliessen; in der Romandie könnten alle Kirchgemeinden, die im COMITE ROMAND sind, ihre Ressourcen noch mehr abstimmen und teilen. Ich habe Verständnis dafür, dass jede Form von Zentralismus in unserer Kirche verdächtig scheint und emotional auf Widerstand stösst. Keine andere Kirche der Schweiz ist aufgrund der Verwobenheit unserer kirchlichen Entstehung mit dem politischen Kulturkampf vor 150 Jahren so mit den politischen Strukturen verzahnt wie die unsrige. Unsere kirchlichen Strukturen sind sozusagen ein Spiegelbild der politischen. Aber auch im politischen Bereich schliessen sich heute kleine Gemeinden zu einer grossen zusammen oder die Kantone geben Kompetenzen an den Bund ab, weil sie es aufgrund der heutigen Komplexität als sinnvoll erachten. Diese Veränderungen müssen von unten nach oben wachsen. Daher könnte eine vorweg genommene verstärkte Zusammenarbeit in den Regionen einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, den Reformen durch die Nationalsynode auf Bistumsebene den Weg zu bereiten. Weiterhin braucht es vermutlich eine Ausnahmelösung für Diasporagebiete, wie z.B. im Tessin.

Zum Schluss

Wir brauchen ein Handeln, dass sich an der Zukunft orientiert und nicht am Gestern. Das wird nur gelingen, wenn der Wandel mit einer Veränderung in der Mentalität und in der Grundeinstellung zu verschiedenen Themen verbunden ist.

Ich möchte das mit den Themen „Öffentlichkeitsarbeit“ und „geistlicher Nachwuchs“ nochmals veranschaulichen.

Oft wird die Meinung vertreten, dass wir mehr Mitglieder hätten, wenn wir mehr Öffentlichkeitsarbeit leisten würden. Natürlich kann man sich immer verbessern. Aber Experten/innen in diesem Bereich wissen, dass Öffentlichkeitsarbeit zwar den Bekanntheitsgrad einer Organisation erhöhen kann, aber nicht die Mitgliederzahlen, wenn diese Organisation unter einer gewissen kritischen Grösse liegt. Ich erinnere hier zum Beispiel an die Heilsarmee mit ihrer Weihnachtstopfkollekte, ihren Brockenhäusern und ihren Obdachlosenheimen. Sie ist kleiner, aber bekannter als wir und hat trotzdem ähnliche Probleme. Ein weiteres Beispiel ist die Mittelverwendung im Medienbereich. Den grössten Teil investieren wir in die klassischen Printmedien wegen den Gemeindenachrichten. Anstatt die Mittel zu den neuen elektronischen Medien zu verlagern. Ich könnte mir vorstellen, dass CHRISTKATHOLISCH wie PRESENCE neu monatlich als interessantes Printmagazin erscheint. Dazu wird jeden zweiten Sonntag ein anderer Gemeindegottesdienst im Livestream für das gesamte Bistum und die Öffentlichkeit übertragen. Auch unsere Homepage entspricht nicht mehr dem idealen Standard, wenn man sie mit anderen vergleicht. Und all dies zusammen wiederum könnte im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit unser Erscheinungsbild nach aussen verbessern. Aber es bringt nicht zwingend mehr Mitglieder. Und vergleicht man die heutige Situation mit der von vor 20 Jahren, wird man sogar feststellen, dass unsere Präsenz in den Medien besser geworden ist.

Wir haben den Auftrag den auferstandenen Christus zu feiern und zu verkünden. Wir haben den Auftrag, Menschen als seine Jünger und Jüngerinnen für sein Evangelium zu gewinnen und uns für seine Werte in der Welt einzusetzen. Das ist etwas anderes, als volks- und landeskirchliche Restbestände zu verwalten.

Wir haben zu wenig geistlichen Nachwuchs, sowohl aus den eigenen Reihen als auch von Quereinsteigenden. Das ist bedauerlich. Auch ich wünsche mir mehr Theologiestudierende. Vielleicht leben wir in einer Epoche, wo wir lernen müssen, mit weniger Personal Kirche zu sein. Vielleicht müssen wir uns – vom hauptamtlichen Beruf des 100% Pfarrers / Pfarrerin abgesehen – vom akademischen Priesterbild verabschieden und neue Ausbildungsgänge für Priester/innen und Diakone/innen schaffen, die teilzeitlich oder ehrenamtlich das Pfarramt unterstützen. Ausserdem sollten wir mehr Schulungen für die teilzeitlich oder ehrenamtlich tätigen Laien anbieten. Wir haben mittelfristig genügend Personal, um den Übergang zu gestalten und Neues in die Wege zu leiten. Aber wir müssen jetzt damit anfangen.

Wir haben den Auftrag den auferstandenen Christus zu feiern und zu verkünden. Wir haben den Auftrag, Menschen als seine Jünger und Jüngerinnen für sein Evangelium zu gewinnen und uns für seine Werte in der Welt einzusetzen. Das ist etwas anderes, als volks- und landeskirchliche Restbestände zu verwalten.

Bern, in der Fastenzeit 2023

Bischof Dr. Harald Rein